In die Welt der athenischen Feste führen uns die Darstellungen auf diesem Skyphos. Die Bilder beziehen sich auf die Anthesterien, das »Blütenfest«, das im Vorfrühling gefeiert wurde und drei Tage dauerte. Auf der einen Seite des Trinknapfes ist eine ungewöhnliche Szene zu sehen. Links steht ein bärtiger Silen mit einer Strahlenbinde, deren Enden lang herabfallen. Er hat das linke Bein leicht vorgesetzt, um einen sicheren Stand zu haben, und streckt beide Arme nach vorn, um ein vor ihm auf einer Schaukel nach rechts schwebendes Mädchen aufzufangen oder erneut abzustoßen. Die Schaukel besteht aus einem Hocker, der an rot aufgemalten Stricken oberhalb des Bildfeldes – wahrscheinlich an einem Baum – befestigt ist. Das Mädchen mit langem Haar und in feingefälteltem Chiton hält sich an den Stricken fest und hat die Beine vorgestreckt, um den Schwung zu unterstützen. Links oben sind Reste einer Inschrift erhalten: »Schön bist du, Antheia«.
Die andere Seite zeigt wiederum einen Silen. Er steht nach links gewandt und trägt auf dem Kopf eine hohe Krone von Schilfblättern. Mit beiden Händen hält er einen Sonnenschirm über das Haupt einer vor ihm herschreitenden Frau.
Die erstgenannte Szene ist dem dritten Tag der Anthesterien zuzuordnen. Nach fröhlichem Wetttrinken (Choenfest) und der heiligen Hochzeit, die die Frau des Archonten, die Basilinna, mit dem Gott Dionysos zu vollziehen hatte, wurde am letzten Festtag, dem Chytrentag, mit dem Schaukelfest (Aiora) als einem Sühneritus der Verstorbenen gedacht. Die Verbindung zu dem Weingott Dionysos, dem das Frühlingsfest gewidmet war, wird im mythischen Ursprung der Aiora deutlich: Der attische Bauer Ikarios hatte als erster in Attika Dionysos aufgenommen und bekam zum Dank dafür von dem Gott die Weinrebe geschenkt. Das unbekannte Getränk wurde ihm jedoch zum Verhängnis; im Rausch töteten ihn seine Nachbarn. Aus Gram über den Tod ihres Vaters erhängte sich daraufhin seine Tochter Erigone. Zur Sühne des Frevels befahl das Orakel von Delphi das Schaukelfest – in Erinnerung an die Todesart der Erigone. Das grausige Geschehen ist zu einem harmlosen Spiel gewandelt worden, an dessen dionysische Ursprünge nur noch der Silen erinnert.
Bei der Darstellung auf der Gegenseite des Trinkgefäßes ist man oft davon ausgegangen, dass hier ein Hinweis auf die heilige Hochzeit beabsichtigt ist: Die Basilinna wird in feierlichem Zug zu dem Archontenhaus, in dem das geheime Mysterium stattfand, geleitet. Die ungewöhnliche Bewegungsrichtung von rechts nach links scheint jedoch eher darauf hinzuweisen, dass die beiden Skyphosbilder aufeinander bezogen sind. Es ist also anzunehmen, dass die vornehm gekleidete Frau als Basilinna am Chytrenfest das Schaukeln überwacht und mit ihrer Anwesenheit den empfangenen Segen des Gottes vergegenwärtigt.
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