Ein großes, unübersichtliches Gewimmel von nackten Leibern - erst auf den zweiten Blick sieht man hoch oben den über der Weltkugel thronenden Christus, wie er am Jüngsten Tag Gericht spricht. Um ihn herum steigen die Seligen in den Himmel auf und scheinen sich schließlich in einer Gloriole aus Licht aufzulösen. Unten auf der Erde spielen sich derweil dramatische Szenen ab: Während auf der linken Seite die eben Auferstandenen betend ihre Aufnahme in den Himmel erhoffen, werden auf der rechten Seite die Verdammten von schrecklichen Teufelsgestalten in den Abgrund gezerrt. Genau in der Mitte zwischen Erlösung und Verdammnis wacht der schöne Erzengel Michael mit erhobenem Schwert und Schild.
Bei der großformatigen Zeichnung handelt es sich um den Entwurf für ein Glasgemälde, auch Scheibenriss genannt. Sie bildet den Abschluss einer 37 Blätter umfassenden Passions-Folge, die sich komplett im Bestand des Kupferstichkabinetts der Kunsthalle erhalten hat. Zielort für die heute leider zerstörten Glasgemälde scheint das ehemalige Kloster Gengenbach im Schwarzwald gewesen zu sein.
Schöpfer der Scheibenrissfolge war der Zürcher Maler Christoph Murer, der als einer der bedeutendsten Schweizer Künstler der Zeit um 1600 gilt. Das Jüngste Gericht ist die letzte Zeichnung Murers, der 1611 die Kunst aufgab und als Amtmann nach Winterthur ging. Daher verwundert es nicht, dass sich der Künstler in besonders persönlicher Weise darauf verewigt hat. In der oberen Kartusche erscheint sein persönlicher Leitspruch: "Was ich inn Gott gehoffet hab, daran ist mir nichts gangen ab..." In der Sockelzone ist das "sprechende" Wappen der Familie Murer mit dem Mauerstück im Schildbild wiedergegeben. Rechts und links in der Kartusche steht seine ausführliche Signatur mitsamt Heimatort, Ämterbezeichnung und einer taggenauen Datumsangabe. Zwei flankierende Putti mit Pinsel und Palette bzw. Tinte und Feder verweisen auf Murers Talente als Maler und Schriftsteller. Die Tatsache, dass der Künstler sein eigenes Wappen in die Komposition integriert, deutet darauf hin, dass er selbst der Stifter des Glasbildes war.
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