Ein bärtiger Mann mit markanten Gesichtszügen, in ein seidenes Gewand gekleidet, liest in einer Handschrift. Auf einem Teppich stehend, lehnt er sich an einen mit Perlmutteinlagen besetzten Korankasten vor einer Brunnennische. Viele Facetten der komplexen Figur des Osman Hamdy Bey – historisch versierter Maler, Politiker, Autor und Museumsdirektor – scheinen sich in jenem orientalisierenden Genrebild zu spiegeln, das Objekte des islamischen Kunsthandels, klassisch osmanische Architektur und orientalisch anmutendes Kostüm kombiniert.
Schon 1873 hatte der Künstler mit »Les Costumes populaires de la Turquie« einen bedeutenden Beitrag zur Bestimmung lokaler Tradition in der osmanischen Moderne geleistet. Auch dienten ihm Fotografien von sich oder seinen Modellen in historischen Kostümen gelegentlich als malerische Vorlage. So zeigt auch »Der Wunderbrunnen« eine nicht mehr zeitgemäß gekleidete Person: Der türkische oder arabische Osmane trug um die Jahrhundertwende längst Anzug und Fez. Der goldene Krug rekurriert auf das 18. Jahrhundert und die Kalligraphie unter anderem auf den Gründer eines Sufi-Ordens, während der Koranschrein der Sammlung des Topkapı-Palasts entstammt. Für die Brunnennische aus dem 16. Jahrhundert schließlich findet sich die Vorlage im ältesten osmanischen Gebäude Istanbuls, im Çinili Köşk von 1472, der Teil des Kaiserlichen Antikenmuseums war. Dessen Direktor war Osman Hamdy Bey. So verschmelzen im Bild Elemente des Vergangenen zu einem gemalten ›Musée sentimentale‹ – mit weitreichender Bedeutung: Denn der Historismus im Gewand des europäischen Orientalismus und die Entdeckung eines eigenen Kulturerbes waren für die Entstehung der osmanischen Archäologie ebensowichtig wie für die Entwicklung einer nationalen Identität. | Philipp Demandt
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