Clausen: zwischen Industrie, Not und sozialem Engagement (1834-1836) von Nicolas Liez/ Nicolas ReuterAbgeordnetenkammer Luxemburg
Zwischen Hunger und Wohlstand
Während Händler, Beamte und Grundbesitzer Wohlstand genießen, sind am Vorabend von 1848 12 % der Bevölkerung auf Almosen angewiesen. Die Armen kämpfen um Kartoffeln, deren Preis sich vervierfacht hat. Zwei Welten, getrennt durch Stand und Besitz.
Die Macht der Besitzenden
Die an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie stehende Oberschicht maßt sich an, die Unterschichten wirtschaftlich und moralisch zu disziplinieren.
Gefährdete Stabilität
Das Mittel- und Kleinbürgertum macht in den Staaten des Deutschen Bundes in den 1840er Jahren 10-25 % der Bevölkerung aus. Dazu zählen Handwerker, Kaufleute, Drucker, Lehrer und mittlere Beamte, die ebenfalls hungergefährdet sind.
Ein neu erfundener Ausdruck für eine höchst bedeutsame und unheilvolle Erscheinung … Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die anstrengendste Arbeit höchstens das notdürftigste Auskommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist …, keine Aussichten der Besserung hat …, den Seuchen, der Branntweinpest und viehischen Lastern aller Art, den Armen-, Arbeits- und Zuchthäusern fortwährend eine immer steigende Zahl von Rekruten liefert.
Brockhaus-Konversationslexikon XI, 18469, S.15f
Nicolas Breithof(f) (1818-1874)
Drucker wie Nicolas Breithof(f) verfügen über Bildung, die ihre politische Partizipation erleichtert – von der sie in den 1840er Jahren jedoch ausgeschlossen sind.
Die Arbeiterklasse: Überleben durch Arbeit
Das Industrie-Tal Mühlenbach (09.01.1843) von François BochAbgeordnetenkammer Luxemburg
In der Hauptstadt ist eine lohnabhängige Arbeiterschaft in der Textil-, Handschuh-, Steingut-, Tabak- und Papierherstellung sowie in den Brauereien entstanden. Die Manufakturen beschäftigen auch Heimarbeiterinnen.
Laurents soziale Botschaft: die Sonntagsarbeit (1846) von Jean-Théodore LaurentAbgeordnetenkammer Luxemburg
Heilige Zeit, weltliche Arbeit
In seinem Fastenhirtenbrief von 1847 kritisiert der apostolische Vikar Jean-Théodore Laurent die Sonntagsarbeit, die er als Verstoß gegen die Heiligung des Ruhetags ansieht.
Die Kartoffel-Krise: Wenn Nahrung unerschwinglich wird
Die Spinnerin am Rad (1800-1875) von Mathieu KirschAbgeordnetenkammer Luxemburg
Der Kampf ums tägliche Brot
Kartoffeln sind Grundnahrungsmittel. Missernten lassen den Preis für 65 kg von 2,40 Franken (1841) auf 9,60 Franken (1847) steigen. Ein Tagelöhner verdient 0,50 Franken pro Tag.
Wie diese Spinnerin versuchen viele, mit Heimarbeit ihr Einkommen aufzubessern.
Die Industrialisierung: eine Bedrohung für die Armen
Die Tuch-, Stoffe- und Buckskinfabrik der Gebr. Godchaux (1834-1836) von Nicolas Liez/ Nicolas ReuterAbgeordnetenkammer Luxemburg
1835 kaufen die Brüder Samson und Quetschlik Godchaux die Schleifmühle an der Alzette. Ihre 1828 im Vorort Pfaffenthal gegründete Tuchmanufaktur wird dorthin verlegt und bildet das Fundament der späteren Fabrikanlagen.
Die Stoffe- und Buckskinfabrik der Gebrüder Godchaux auf Schleifmühle produziert 70 % der Stoffe Luxemburgs. Sie bedroht das Einkommen der ländlichen Armen, die in der Heimweberei tätig sind.
Die Godchaux-Manufaktur um 1835 und 2025. Von der ursprünglichen Tuchfabrik ist kaum noch etwas erhalten.
Armenfürsorge als Disziplinierung
Die Fayencen-Manufaktur Boch-Septfontaines (1834-1836) von Nicolas Liez/ Nicolas ReuterAbgeordnetenkammer Luxemburg
Die Fayencemanufaktur Boch-Septfontaines wurde 1767 gegründet und stellt Haushaltswaren aus Fayence her. Nach Luxemburgs Beitritt zum Deutschen Zollverein im Jahr 1842 gerät die Fabrik in wirtschaftliche Schwierigkeiten und kann nur mit großer Mühe überleben.
1812 gründet Fayencerie-Besitzer Pierre-Joseph Boch eine Arbeiter-Hilfskasse. Finanziert durch Beiträge von Arbeitgeber, Arbeitnehmern und Strafgeldern, zahlt sie Arbeitern im Krankheitsfall oder bei Arbeitsunfähigkeit bis zu drei Monate lang täglich einen Franken.
Die Boch-Fayencefabrik um 1835 und 2025. Die Residenz der Familie Boch ist erhalten geblieben
Billige Genüsse: Tabak wird in Fayencegefäßen wie diesem aus der Produktion von Boch aufbewahrt. Neben Branntwein gehört Tabak zu den wenigen erschwinglichen Genussmitteln der unteren Klassen.
Édouard Aschman (1820-1886)
Armenärzte wie Édouard Aschman werden von den Kommunen angestellt und von der Regierung bezahlt. Sie müssen Sprechstunden für Bedürftige anbieten. Beschwerden sind häufig – so etwa 1854, als ein Pfarrer einen Arzt für seine fünftägige Abwesenheit kritisiert.
Die mechanische Papierfabrik Lamort in Senningen (1834-1836) von Nicolas Liez/ Nicolas ReuterAbgeordnetenkammer Luxemburg
1828 kauft Drucker Jacques Lamort die Papiermühle in Senningen. 1834 installiert er dort eine Maschine für Endlospapier. 1845 beschäftigen die Lamort-Mühlen in Senningen und Manternach rund 200 Arbeiter – ein früher Schritt zur Industrialisierung.
Da ihr karger Lohn zum Leben nicht ausreicht, sind die Arbeiter gezwungen, auf Hilfsarbeiten auszuweichen. In den 1840er Jahren verdient ein Fabrikarbeiter durchschnittlich zwischen 0,60 und 0,80 Franken pro Tag.
Die Lamort-Fabrik befand sich ursprünglich am Standort des heutigen Schlosses Senningen, das 2025 von der luxemburgischen Regierung für Tagungen, Empfänge und Konferenzen genutzt wird. Es ist nicht öffentlich zugänglich.
Tapetenbordüren aus Lamort-Produktion Tapetenbordüren aus Lamort-Produktion (1800-1900) von LamortAbgeordnetenkammer Luxemburg
Prunk in der Armut: Lamorts Tapetenboom
Gegen Ende der 1830er Jahre erweitert die Papierfabrik Lamort ihre Produktpalette um hochwertige Papiertapeten. Die starke Nachfrage aus dem Ausland hilft dem Unternehmen, die wirtschaftliche Krise der 1840er Jahre zu überstehen.
Disziplinierung auf Papier: Das Arbeiter-Livret
Ein bewährtes Mittel zur Disziplinierung der Unterschichten ist das Arbeiter-Livret, in das der Dienstherr aus seiner Sicht erfolgte Verfehlungen eintragen kann.
Marie-Catherine Wurth-de la Chapelle (1796-1875)
1844 gründet Marie-Catherine Wurth-de la Chapelle einen katholischen Wohltätigkeitsverein. Wie für Pierre-Joseph Boch ist der Lebenswandel der Betroffenen für sie das entscheidende Kriterium für die Unterstützung mit Lebensmitteln, Wäsche und Geld.
Die Bettlerin auf dem Teller (1830-1855) von Boch-SeptfontainesAbgeordnetenkammer Luxemburg
Bettler in der Kunst: Ein Motiv auf bürgerlichen Tischen
Spätestens seit Jacques Callot sind die Lebensumstände von Bettlern ein wiederkehrendes Thema in der Kunst – so auch auf diesem Boch-Fayence-Teller. Fayence-Gebrauchsgegenstände finden sich in allen bürgerlichen Haushalten.
Bürgerwachen und Repression: Die Angst vor Unruhen
Armut drängt viele in die Bettelei, andere schließen sich Räuberbanden an. Ein Gendarmeriebericht über einen Mundraub in Bourscheid zeigt, wie die Regierung repressiv reagiert. Rechts: Der Standort der ehemaligen Mühle in Bourscheid im Jahr 2025.
Zum Schutz der (ständischen) Ordnung (09.01.1843) von UnbekanntAbgeordnetenkammer Luxemburg
Streife gegen die Armut
Mit Erlass vom 24. Dezember 1842 werden die Bürgermeister – wie hier in Wiltz – aufgefordert, Tageswachen und Nachtpatrouillen zusammenzustellen, um die Gendarmerie bei ihren Aufgaben zu unterstützen.
Die Bürgergarden haben u. a. zur Aufgabe, das Betteln und Vagabundieren zu verhindern und jede Person festzunehmen, die sie bettelnd außerhalb ihres Wohnortes antreffen.
Machtkampf um die Wohlfahrt
Rundschreiben in Betreff der Einrichtung der öffentlichen Wohlthätigkeit im Großherzogthum Luxemburg (29.12.1846) von Wilhelm II.Abgeordnetenkammer Luxemburg
1846: Wohlfahrt ohne Recht
Die private Wohltätigkeit kann die sozialen Probleme nicht bewältigen. 1846 führt die Regierung ein Gesetz ein, das die öffentliche Fürsorge neu regelt: Die Kommunen sind nun für Bedürftige verantwortlich, doch ein einklagbares Recht auf Hilfe für Betroffene fehlt.
Grund: Arbeit, soziale Gegensätze und politische Impulse (1834-1836) von Nicolas Liez/ Nicolas ReuterAbgeordnetenkammer Luxemburg
Das Grund-Viertel der Hauptstadt ist im 19. Jahrhundert ein armes Viertel.
Hilfe nur mit Erlaubnis
Hilfsbedürftige müssen sich an das Wohltätigkeitsbüro ihrer Gemeinde wenden, wo sie ein Hülfs-Domicil haben – vorausgesetzt, sie wurden dort vor ihrer Notlage aufgenommen. Ein fünfköpfiges, vom Gemeinderat bestimmtes Gremium aus Honoratioren prüft die Anträge und entscheidet darüber.
Blick auf die Alzette im Grund-Viertel um 1835 und 2025.
Das Bettlerdepot (1816-1851) von Jean-Baptiste FresezAbgeordnetenkammer Luxemburg
Vom Kloster zum Bettlerdepot
Im Jahr 1690 zogen die Klarissen nach Pfaffenthal, nachdem sie das Heilig-Geist-Plateau verlassen hatten. Ihr Kloster, das 1784 aufgelöst wurde, stand 60 Jahre lang leer. 1843 zog das Sankt-Johann-Elisabeth-Hospiz mit Personal und Bewohnern ein. Bis 1846 wurde es in ein Bettlerdepot umgewandelt.
Laut Art. 275 des Strafgesetzbuchs werden gesunde, arbeitsfähige „Gewohnheitsbettler“ mit 1–3 Monaten Haft bestraft. Außerhalb ihres Wohnkantons drohen 6 Monate bis 2 Jahre Haft. Die Strafe wird im Bettlerdepot in Pfaffenthal verbüßt.
Das Zivilhospiz um 1846 und 2025. Die Institution geht auf die Französische Revolution zurück und umfasst klassisch Altersasyl, Spital und Waisenhaus. 1848 ist auch das Bettlerdepot dort untergebracht. Seit 2002 dient das Zivilhospiz als Pflegeheim, die Kapelle ist nationales Monument.
Kirchlicher Protest gegen das Wohlfahrtsgesetz
Laurents soziale Botschaft: die christliche Wohltätigkeit (1847) von Jean-Théodore LaurentAbgeordnetenkammer Luxemburg
Mit dem Hirtenbrief zur Wohltätigkeit (1847) reagiert der Apostolische Vikar Jean-Théodore Laurent nicht nur auf die akute soziale Not, sondern übt auch Kritik am staatlichen Wohlfahrtsgesetz von 1846.
Laurents soziale Botschaft: Zirkular des Apostolischen Vikars (13.01.1847) von Jean-Théodore LaurentAbgeordnetenkammer Luxemburg
Laurent fordert die Geistlichen auf, sich aktiv in den öffentlichen Wohltätigkeitsbüros zu engagieren, um sicherzustellen, dass die Wohlfahrt nicht ohne kirchliche Kontrolle dem Staat überlassen wird.
Auswanderung als Ausweg aus der Armut
Auswanderer auf dem Schiff Samuel Hop (1849) von Leo von ElliotAbgeordnetenkammer Luxemburg
Ein Drittel der Luxemburger, vor allem aus der Moselregion, wandert aus. Einige zieht es nach Paris, andere nach Südamerika oder später in die USA. Weinbauern trifft der Verlust Belgiens als Absatzmarkt hart. Der Beitritt zum Zollverein 1842 bringt keinen gleichwertigen Ersatz.
Frédéric Hengel (1809-1903)
Frédéric Hengel ist ein USA-Auswanderer. Das französische Erbrecht, das Erbteile gleich verteilt, treibt die Winzer in Armut, da kleine Parzellen unrentabel sind. Schlechte Witterung verschärft die Lage: Die Weinqualität ist 1840-1851, außer 1842 und 1846, durchgehend schlecht.
Elitäre Zirkel, soziale Ungleichheit und zaghaftes Mitgefühl
Das Who is who der Hauptstadt (1830) von UnbekanntAbgeordnetenkammer Luxemburg
1852 zählen 5,2 % der vorwiegend männlichen Einwohner Luxemburgs zur Wirtschaftselite: Händler (33 %), Bezieher von Kapitaleinkünften und Renten (18,5 %), Handwerker (16,2 %), freie Berufe (11,9 %) und hohe Beamte (10,6 %). Man trifft sich gerne im Cercle littéraire am Place d’Armes.
Das Lesekabinett (1843) von Johann Peter HasencleverAlte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
In geselligen Runden diskutieren wohlhabende Bürger und Intellektuelle über politische Schriften, Zeitungen und neue Ideen – oft unter dem wachsamen Blick der Zensur. Frauen bleibt die Mitgliedschaft in diesen Lesezirkeln verwehrt.
Der Cercle littéraire ist ein elitärer Treffpunkt des Bürgertums. Zutritt haben nur in Luxemburg wohnhafte Familienväter ab 25 Jahren, die 2 Gulden monatlich und 24 Gulden Aufnahmegebühr zahlen können. Bei Wein und Champagner debattiert man über die Themen der Zeit.
Das Gebäude des Cercle littéraire beherbergt ein Lesekabinett sowie Räume für Bälle und Bankette. Feinkost ist für die Wirtschaftselite erschwinglich – ein Zeichen sozialer Ungleichheit.
Dieser Leserbrief in der liberalen Zeitung Courrier du Grand-Duché de Luxembourg belegt, dass Teile des Bürgertums die soziale Frage erkennen. Der Verfasser bleibt anonym – vermutlich, um nicht in Konflikt mit seiner gesellschaftlichen Schicht zu geraten.
Das Klagegedicht The Song of the Shirt von Thomas Hood zu Ehren der verwitweten Näherin Mrs. Bidell (1843) wird in viele Sprachen übersetzt und weltweit veröffentlicht – 1861 auch in Luxemburg. Es wird zum Phänomen, das die Aufmerksamkeit auf das Elend der Unterschichten lenkt.
1848 entflammte der soziale Funke: Hunger, Armut und Ungleichheit trieben das Volk auf die Straße. Die Obrigkeit reagierte mit Repression – doch der Ruf nach Reformen war nicht zu überhören.
Heute sind soziale Spannungen erneut ein Thema: Steigende Preise, prekäre Arbeit und soziale Ungleichheit fordern Antworten. Geschichte wiederholt sich nicht – doch sie lehrt, dass soziale Missstände nie folgenlos bleiben.
So geht es weiter: 03. Rechts oder links? Politische Strömungen 1840-1848
Hier geht es zur Übersicht aller 10 Storys der Ausstellung „1848: Revolution in Luxemburg“.
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