Das Piranesi-Prinzip

Zum 300. Geburtstag des großen italienischen Meisters

Porträt von G.B. Piranesi als antike Büste (1750) von Francesco PolanzaniKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778) war ein Universaltalent des 18. Jahrhunderts. Er machte internationale Karriere als Archäologe, Künstler, Architekt, Kunsthändler, Autor und als temperamentvoller Polemiker. Alles wurde für ihn zur Inspiration: die Künste ferner Epochen und Regionen, Bilder aus Wissenschaft und Technik, die Oper und das Theater, sogar der Papierabfall seiner Werkstatt.

Blick in die Ausstellung „Das Piranesi Prinzip“ in der Kunstbibliothek im Kulturforum Berlin (Januar 2020)Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Die Kunstbibliothek und das Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin besitzen eine weltweit einzigartige Piranesi-Sammlung. Gemeinsam mit Studierenden der Humboldt-Universität entstand zu seinem Geburtstag eine Ausstellung, welche die ganze mediale Bandbreite seines Schaffens zeigte – von seinen Meisterstichen und Handzeichnungen bis hin zu seinen Streitschriften und monumentalen Büchern.

Ansicht des Campo Vaccino (heute: Forum Romanum), aus: "Vedute di Roma" (um 1776) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesi war gebürtiger Venetianer, doch von 1747 an lebte und wirkte er dauerhaft in Rom, die im 18. Jahrhundert eine von Hungersnöten geplagte, arme Stadt war. Selbst das Forum Romanum war zu einer Kuhweide („Campo Vaccino“) verkommen. Dennoch war Rom sexy: Künstler, Archäologen und Kunsthändler kamen aus aller Welt, um hier ihr Glück zu machen. Vor allem für englische Aristokraten war Rom das Traumziel ihrer »Grand Tour«.

Beschrifteter Sockel aus dem Kapitolinischen Museum (1756/1756) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Die Romtouristen des 18. Jahrhunderts erlebten eine Stadt inmitten einer Ruinenlandschaft. Von Pflanzen überwucherte Monumente ragten aus dem Erdreich; in Spalten und Hohlräumen verbargen sich Artefakte und menschliche Überreste. Die morbide Atmosphäre war faszinierend für Piranesi. Manchmal wirken die in seinen Bildern effektvoll inszenierten Skulpturenfragmente wie abgetrennte Gliedmaßen menschlicher Körper.

Ansicht der Ruinen der Diokletiansthermen (1550/1550) von Hieronymus CockKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Mit seinen Rom-Veduten wurde Piranesi europaweit berühmt. Die Geschichte der »Vedute« (Ansicht eines Ortes) beginnt bereits mit der Renaissance, als Künstler wie der Niederländer Hieronymus Cock (1520 – 1607) die antiken Denkmäler Roms dem heimischen Publikum in Stichen vor Augen führten. Seine Darstellung verrät uns übrigens, dass Rom ein gefährliches Pflaster war: ein Tourist wird von Räubern überfallen.

Ansicht der Schutzmauer des Augustusforums in Rom (1757) von Giovanni Battista PiranesiOriginalquelle: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesis Erfolg als Vedutist gründete auf seinem 135 Blätter umfassenden und in hoher Auflage gedruckten Mammutwerk »Vedute di Roma«, an dem er mehr als 30 Jahre arbeitete. Er wählte ungewöhnliche Perspektiven, dramatisierte Licht und Schatten und manipulierte die Größenverhältnisse, indem er die Figuren kleiner zeichnete als in Wirklichkeit. Mitunter hatte das Publikum Schwierigkeiten, die dargestellten Bauten vor Ort wiederzuerkennen.

Kolosseum in Rom aus der Vogelschau von Westen (1760/1770) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesi war unermüdlich auf der Suche nach Motiven für Veduten, die bei den Rom-Reisenden sehr beliebt waren. Auf seinen Motiv-Safaris entstanden unter anderem auch zwei Zeichnungen des Kolosseums,....

Kolosseum in Rom aus der Vogelschau von Norden (1760/1770) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

...die sich in der Kunstbibliothek befinden. Für eine Zeit, in der es noch keine Fluggeräte gab, ist die Perspektive völlig unrealistisch. Wie ein Anatom legt Piranesi das Kolosseum auf den Seziertisch, um es aus unterschiedlichen Ansichten zu studieren.

Seitenansicht des Isistempels in Pompeji (um 1778) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Als Piranesi in Begleitung seines Sohns Francesco Anfang der siebziger Jahre zum ersten Mal nach Pompeji kam, hatte der internationale Tourismus die Vesuvstadt längst entdeckt. Wenige Jahre zuvor war der im zweiten vorchristlichen Jahrhundert für einen ägyptischen Mysterienkult gebaute Isis-Tempel freigelegt worden. Dadurch wurde der Besucheransturm noch verstärkt. Eine regelrechte »Ägyptomanie« griff um sich.

Bühnenbildentwurf: Höhlengang mit vergitterten Felsgrotten und angeketteten Untieren (um 1780) von Bartolomeo VeronaKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Das Theater hatte einen großen Einfluss auf Piranesi. Im 18. Jahrhundert war Theater ‚ganz großes Kino‘. Mit innovativen Spezialeffekten revolutionierten die Szenographen seiner Zeit die Sehgewohnheiten des Publikums. Piranesi verfolgte mit wachem Auge die Entwicklungen auf diesem Gebiet und nutzte die neuesten Errungenschaften für seine Architekturvisionen.

Illustration aus dem Architekturtraktat „L'architettura civile preparata su la geometria..“ (1711/1711) von Ferdinando Galli da BibienaKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Einer der innovativsten Spezialeffekte war die »Scena per angolo«, die von dem Bologneser Architekten Ferdinando Galli da Bibiena (1656 – 1743) erfunden worden war. Entscheidendes Merkmal ist die Übereckstellung der Bühnenarchitektur....

Blick in eine große Hallenarchitektur mit Treppen (1760/1760) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

...Der Blick wird nicht auf einen zentralen Fluchtpunkt gelenkt, sondern gleichzeitig nach links und rechts gezogen: der Zuschauer hat das Gefühl, die Architektur kommt auf ihn zu.

Ansicht der Statuengalerie der Hadriansvilla in Tivoli (1769/1771) von Giovanni Battista PiranesiOriginalquelle: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Unter Verwendung verschiedenster Kunstmittel verhalf Piranesi den antiken Bauwerken zu maximaler Bühnenpräsenz. Viele seiner ›Tricks‹ entstammen dem Theater des 18. Jahrhunderts: Bei seinem Blick in die Hadriansvilla in Tivoli erzielt er den theatralischen Effekt durch eine dramatische Ausleuchtung und die Platzierung einer Figur (ganz rechts), die begeistert beide Arme ausbreitet.

Kerker (Mann auf der Folterbank) (um 1761) von Giovanni Battista PiranesiOriginalquelle: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

In seinen berühmten „Carceri“ (Ansichten von Kerkern) verwendete Piranesi die »Scena per angolo« und eine theatermäßige Lichtregie, um den Bildeindruck zu steigern. Auch die Themen kommen aus der Theaterwelt des 18. Jahrhunderts. Dass in der zweiten Tafel der »Carceri« die Namen prominenter Opfer Neros in die Mauerquader eingemeißelt sind, ist kein Zufall. Nero zählte damals zu den populärsten Bühnen-Bösewichten.

Konstruktionsanleitung für eine Spirale „Figura a Lumaca“ (um. 1757) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesi war nicht nur Künstler, sondern auch Wissenschaftler und Archäologe. In seiner Werkstatt experimentierte er mit innovativen Bildtechniken, um Wege zu finden, seine Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit zu kommunizieren. Seine Karten, Schautafeln und Rekonstruktionen machten ihn in den Wissenschaften weit über Italien hinaus berühmt: 1757 wurde er Mitglied der »Society of Antiquaries« in London, 1761 Ehrenmitglied der »Academia San Luca in Rom«.

Großer Plan des römischen Marsfeldes in Rom (1762/1762) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

1762 publizierte Piranesi ein Buch zum antiken Marsfeld. Mit einem großen Bildapparat und einem fast 100 Seiten langen Textteil bot das Werk ein Kompendium allen Wissens, das er aus historischen Quellen zusammengetragen und durch eigene Untersuchungen erworben hatte....

Detail vom großen Plan des römischen Marsfeldes in Rom (1756/1756) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

....Ein Highlight des Werks ist die große ausfaltbare Darstellung einer Marmorplatte, in welche der Plan des Marsfelds eingemeißelt ist. Die Metallklammern und Bruchstücke wirken täuschend echt.

Schnitt durch die Engelsbrücke und die Engelsburg (Hadriansmausoleum) (1756/1756) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Im Jahrhundert der Aufklärung sahen sich die Wissenschaften vor die Herausforderung gestellt, komplexe Sachverhalte und Wissenszusammenhänge in Bildern anschaulich zu machen. Auch Piranesi experimentierte mit Diagrammen und Schaubildern. In seinem großformatigen Schnitt durch die Engelsbrücke scheinen sich wie auf einem Windows-Desktop immer neue Fenster zu öffnen.

Rekonstruktion des Circus Maximus in Rom (1764/1769) von Giovanni Battista PiranesiOriginalquelle: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesis 1756 erschienene vier Bände der „Antichità Romane“ (Römische Altertümer) zählen zu seinen bedeutendsten wissenschaftlichen Arbeiten. Rekonstruktionen antiker Bauwerke spielen in dieser Publikation eine wichtige Rolle. Ein Beispiel ist seine Vorzeichnung zu einer Rekonstruktion des Circus Maximus, der zu Zeiten des römischen Imperiums durch seine Größe die Welt in Staunen versetzt hatte, im 18. Jahrhundert jedoch vom Erdboden verschwunden war.

Der Palazzo Tomati (zweites Haus links) in der Via Sistina n. 48 (2019/2019)Originalquelle: © Golo Maurer

Seit 1761 lebte und arbeitete Piranesi im Palazzo Tomati unweit der Spanischen Treppe. Das Quartier erfreute sich vor allem bei englischen Touristen großer Beliebtheit. Piranesis Palazzo war nicht nur Atelier, Werkstatt und Labor, sondern auch ein Verkaufsmagazin für archäologische Objekte aller Art. Stolz sprach Piranesi von seinem »museo«. Hier fand er Inspirationen und Bausteine für seine eigenen Schöpfungen.

Recto: Entwurf einer Kaminrahmung (1764/1769) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesis Werkstatt im Palazzo Tomati produzierte jede Menge Papierabfall: Probe- und Fehldrucke, verworfene Skizzen und ausgediente Notizen. Wie im Kulturschutt der Antike fand Piranesi auch in diesem Material Inspiration....

Verso: Fragment des radierten Titelblatts der „Raccolta di varie vedute di Roma...“ (1764/1769) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

...Re-Cycling gehörte zum Werkstattalltag, zumal Papier eine kostbare Ressource war. Vorder- und Rückseiten von Drucken und Zeichnungen wurden für immer neue Radierungen und Entwürfe herangezogen.

Entwurf eines Kamins mit Greifen auf dem Sturz und Kandelaber auf den Pfeiler, rechte Seite (1764/1769) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Auch die in der Kunstbibliothek befindlichen Kaminentwürfe wurden von Piranesi auf die Rückseiten von Drucken gezeichnet. Eine vergleichbare Sammlung befindet sich in der Pierpont Morgan Library in New York. Es ist verblüffend: Manche der Berliner Zeichnungen schließen sie wie Puzzle-Teile nahtlos den New Yorker Objekten an. Ganz offensichtlich haben sie ihren Ursprung in einer größeren Sammlung, die vor 1925 mit der Schere zerteilt wurde und danach auf den Kunstmarkt gelangte.

Widmungsblatt der „Diverse maniere“ (1769/1769) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

Piranesis Kaminzeichnungen dienten der Vorbereitung der 1769 erschienen Publikation »Diverse maniere d’adornare i cammini« (Unterschiedliche Arten, Kamine zu schmücken). Sie war ein Bestellkatalog für seine Kundschaft, denn vor allem in Großbritannien gab es eine starke Nachfrage nach modernem Kamindesign. Zum anderen war sie ein künstlerisches Manifest, in dem Piranesi sein Prinzip des »Eklektizismus« erläuterte: die freie Kombination ägyptischer, etruskischer, griechischer und römischer Gestaltungselemente.

Monument mit Eberkopf aus einem Grab an der Via Appia (1779/1779) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

In der Serie »Vasi, candelabri, cippi« publizierte Piranesi Kunstobjekte aus seinem eigenen Palazzo und aus den Sammlungen befreundeter Kunsthändler. Manche der Objekte (sog. „Pasticci“) wurden aus Fragmenten unterschiedlichster Herkunft collagiert. Ein Beispiel ist das „Monument mit Eberkopf“, das von Piranesis Sohn Francesco an König Gustav III. von Schweden (1746 – 1792) verkauft wurde und sich heute im Nationalmuseum von Stockholm befindet.

Bildnis Papst Clemens XIII, Rezzonico (1769/1769) von nach Domenico CunegoOriginalquelle: Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

Aus zeitgenössischen Schilderungen lässt sich ein Steckbrief Piranesis erstellen: groß, vollschlank, braune Augen, Halbglatze und immer unter Volldampf. Er hatte einflussreiche Gönner und Förderer wie Papst Clemens XIII. (1693-1769), in dessen Auftrag er sein einziges Architekturprojekt verwirklichte: die Umgestaltung der im 16. Jahrhundert erbauten Malteserkirche S. Maria del Priorato…

Satire gegen Bertrand Capmartin De Chaupy (1769/1769) von Giovanni Battista PiranesiKunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin

… aber Piranesi hatte auch Gegner, die er leidenschaftlich attackierte: z.B. den Archäologen Bertrand Capmartin de Chaupy (1720-1798), der drei Bände über die Villa des römischen Dichters Horaz (65 – 8 v. Chr.) geschrieben hatte. Beim Blick auf die Publikation musste Piranesi wohl an ein mickriges Männchen denken, das einen riesigen Haufen macht. In seiner Darstellung garniert er sie mit einer Kackwurst, die wie ein Gebirge in einer Landschaft liegt. Lustige Orte werden genannt: etwa »die Akademie der Fanatiker« oder »der Ort, an dem man die Autoren nicht versteht«.

Mitwirkende: Geschichte

Text: Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Concept / Editorial / A-Z Texts: Eva Dalvai, Georg Schelbert, Moritz Wullen
Object texts: Eva Dalvai, Georg Schelbert, Moritz Wullen

Realisation: Katrin Käding/Justine Tutmann

© Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz / Foto: Dietmar Katz, Golo Maurer
www.smb.museum
Kunstbibliothek

Quelle: Alle Medien
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