Unsere
Stadt! Jüdisches Wien bis heute - Teil 1 (nach 1945)
Unsere Stadt! ist die permanente Ausstellung zur jüdischen Geschichte der Stadt Wien. Hier im ersten Teil beginnt sie mit dem Jahr 1945 und führt bis in die Gegenwart. Sie berichtet von der fast gänzlich vernichteten jüdischen Gemeinde, die sich gegen den Widerstand der österreichischen Nachkriegspolitik im Laufe der folgenden Jahrzehnte zu einer zwar kleinen, aber vielschichtigen und lebendigen Gemeinde entwickelte. Es ist eine zutiefst wienerische Geschichte über Immigration: zunächst aus Ostmitteleuropa, dann aus der ehemaligen Sowjetunion – vor allem aus dem zentralasiatischen Raum. Nach dem Blick in die Gegenwart setzt sich die Ausstellung im zweiten Teil fort und führt in die jüdische Geschichte Wiens vor 1945: vom Mittelalter bis zur Schoa. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der dritten jüdischen Gemeinde, die zwischen der Revolution von 1848 und dem Fin de Siècle zur größten deutschsprachigen und drittgrößten europäischen Gemeinde wird. Der Titel Unsere Stadt! ist mit einem Rufzeichen versehen, das sich nicht nur als Selbstbehauptung und Anspruch deuten lässt, sondern paradoxerweise auch als Fragezeichen. Der Titel beinhaltet die Aufforderung, sich der Geschichte Wiens aus einem neuen Blickwinkel anzunähern.
Wien
1945 - Rückkehr als Ausnahme
April 1945. Nur etwa 5.000 der einst mehr als 180.000 Wiener Jüdinnen und Juden hatten in Wien selbst überlebt. Die meisten von ihnen waren durch nichtjüdische Ehepartner oder Elternteile geschützt. Etwa 1.000 konnten sich in Verstecken als sogenannte „U-Boote“ retten. Etwa 2.300 kehrten bis September 1945 aus den Konzentrationslagern nach Wien zurück. Viele versuchten, die Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Das war die traumatische Ausgangslage einer Gemeinde, der in Österreich nach 1945 keine Hilfe angeboten wurde. Exilanten wurden durch bewusst restriktive Staatsbürgerschaftsregelungen und Einreiseverbote nicht zur Rückkehr bewegt, eine Zuwanderung wurde behindert. Und dennoch entstand die Gemeinde neu: zunächst aus Rückkehrern, dann aus Displaced Persons und schließlich doch durch Neuzuwanderer aus Mittel und Osteuropa.
Gewehr aus dem Besitz von Harry Weber (1917) von Schenkung Uta Omodeo-ZoriniJüdisches Museum Wien
Mahjong-Spiel (1940)Jüdisches Museum Wien
Staatsvertrag
und „Hilfsfonds“: 15. Mai 1955
Vor der Unterzeichnung des Staatsvertrags 1955 gelang es den Österreichern in letzter Minute, einen Passus zur Mitverantwortung an den NS-Verbrechen herauszuverhandeln. Dennoch wurde Österreich verpflichtet, die ehemals Vertriebenen zu unterstützen. 1956, 1962 und 1976 wurden Gesetze verabschiedet, die geringe „Hilfszahlungen“ ermöglichten. Daraufhin gingen zahlreiche Schreiben von Bedürftigen aus aller Welt beim „Hilfsfonds“ ein. Niemals hätte die Politik von Entschädigung gesprochen, das wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen.
Die
Herzl holt Herzl
Am 15. 8. 1949 landete erstmals ein israelisches Flugzeug in Österreich: die Passagiermaschine Herzl. Sie kam, um die sterblichen Überreste des zionistischen Visionärs Theodor Herzl nach Israel zu holen. Herzl hatte die Überführung für den Fall der Staatsgründung testamentarisch gewünscht. Am Tag zuvor waren seine Gebeine exhumiert und in den Wiener Stadttempel gebracht worden. Zahlreiche Menschen standen Schlange, unter ihnen viele DPs, um sich von Herzl zu verabschieden.
Vom
Transit zum Aufenthalt - Displaced Persons und neue WienerInnen
300.000 jüdische Flüchtlinge, zumeist Überlebende aus Osteuropa, lebten zwischen 1945 und 1955 in Österreich in vor allem amerikanischen DP Camps. Sie wollten nach Israel oder in die USA, nur wenige blieben hier. Auch während des Kalten Krieges war Österreich Transitland. Nach dem Ungarnaufstand 1956 kamen 17.000 jüdische Flüchtlinge nach Wien. Wieder blieben einige und wurden Mitglieder der neuen jüdischen Gemeinde. Zwischen 1968 und 1989 wanderten etwa 300.000 sowjetische Juden über das neutrale Österreich aus, darunter zahlreiche bucharische Juden, die nach Israel emigrierten. Als sich einige enttäuscht für eine Rückkehr in die UdSSR entschieden, von den Sowjets aber nicht mehr aufgenommen wurden, strandeten sie im Drittland Österreich. Sie und ihre Nachkommen bilden heute fast ein Drittel der Wiener Kultusgemeinde. Wenig bekannt ist, dass viele iranische Juden seit der Islamischen Revolution 1979 ebenfalls Österreich als Transitland genutzt haben.
Kultur
und Geschichte zurück-erobern
Die „Kulturnation“ Österreich sprach nach 1945 kaum Einladungen an vertriebene KünstlerInnen aus. Zu den wenigen, die freudig zurück begrüßt wurden, gehörten Kabarettisten wie Karl Farkas, Hermann Leopoldi und Armin Berg. Sie prägten den humoristischen Stil der Zeit – ein bemerkenswertes Phänomen der Nachkriegsgeschichte. Mit Gerhard Bronner und Georg Kreisler kehrten auch Mitglieder der nächsten Generation zurück. Es war diese jüngere Kabarettszene, die sich erstmals kritisch mit der österreichischen NS-Vergangenheit auseinandersetzte und damit eine größere Öffentlichkeit erreichte. Viele Vertriebene blieben jedoch im Exil. So etwa der Auschwitz Überlebende Jean Améry, der in seinen Essays nicht zuletzt den Begriff der Heimat kritisch hinterfragte. Mit seinem 1955 gewählten französischen Namen – anagrammatisch an seinen Geburtsnamen Hans Mayer angelehnt – betonte er den traumatischen Bruch in seinem Leben.
Identitäts-findung
in der „Freien Gemeinde“
1977 gab der Verband der Jüdischen Jugend Österreich die Zeitschrift "Die Freie Gemeinde" heraus – aus Protest gegen Zensurversuche in "Die Gemeinde", dem offiziellen Organ der IKG. Der humoristische Fragebogen auf Seite 10 ist eine Anleitung zur jüdischen Selbstfindung und zum Engagement im „politisch-jüdischen Dschungel Wiens“.
Zwischen
Innen und Außen - Konflikte ab den 1970er Jahren
25 Jahre nach der Schoa wählten die ÖsterreicherInnen einen Juden zum Bundeskanzler – eigentlich ein positives Signal für die Wiener jüdische Gemeinde. Doch es überwogen ambivalente Gefühle. Kreisky unterstützte einerseits die damals als terroristisch eingestufte Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) und arbeitete andererseits mit Politikern mit NS-Vergangenheit zusammen. Letzteres löste den Konflikt mit Simon Wiesenthal aus, der in einen parteipolitischen, aber auch hoch emotionalen Privatkrieg mündete. Ein weiterer Konflikt, der ebenfalls in der österreichischen Zeitgeschichte wurzelte, ließ die Wiener Jüdinnen und Juden an ihrem Land verzweifeln: die Waldheim-Affäre 1986, in der sie mit heftigen antisemitischen Angriffen konfrontiert waren. Doch neben dieser Desillusionierung konnten sie auch eine neue, positive Erfahrung machen: Es entstand eine mutige Zivilgesellschaft, von deren Seite sie erstmals eine große öffentliche Solidarität erfuhren.
Neue
Wiener Wirklichkeiten - Max Bergers Judaica-Sammlung und Margit Dobronyis
Fotoarchiv
Margit Dobronyi (1913–2009) und Max Berger (1924–1988) sind zugleich repräsentativ und außergewöhnlich. Repräsentativ ist ihre Herkunft aus Mittelosteuropa, die sie mit der Mehrheit der Wiener Juden nach 1945 teilen. Außergewöhnlich ist das Werk, das beide hinterlassen: Max Bergers Judaica-Sammlung ist ein Versuch, die zerstörte Welt seiner Kindheit zu rekonstruieren und seiner in der Schoa ermordeten Familie ein Denkmal zu setzen. Margit Dobronyis Fotoarchiv dagegen dokumentiert die jüdische Wiener Gegenwart ab den 1960er Jahren. Die Vitrine bringt die auf den ersten Blick gegensätzlichen Projekte zusammen und verdeutlicht die Wichtigkeit von gleichzeitiger Erinnerungs- und Gegenwartsarbeit im jüdischen Wien nach 1945. Berger und Dobronyi hatten 1938 nicht in Wien gelebt. Sie verbanden die Schoa nicht zwangläufig mit dieser Stadt und ihren Bewohnern. Es fiel ihnen daher leichter als den meisten aus Wien Vertriebenen, diese Stadt zu ihrer neuen Heimat zu machen.
Margit
Dobronyi - Chronistin der jüdischen Gegenwart
"Eine Foto, bitte!“ So sprach Margit Dobronyi mit ihrem ungarischen Akzent jede und jeden an. Meist ohne Auftrag fotografierte sie zwischen 1960 und 2000 unzählige Bar und Bat Mizwas, Hochzeiten, Wohltätigkeitsveranstaltungen und Purim-Partys. Sie tauchte sowohl in der Sommerfrische als auch beim Schikurs am Semmering auf. Wenig später kamen die Abzüge mit der Post, Erlagschein beiliegend. Ihre Bilder offenbaren den unbändigen Willen der Wiener Jüdinnen und Juden, das versäumte Leben nachzuholen und das Grauen, dem man entronnen war, zu vergessen. Sie spiegeln auch den Stolz der Einwanderer wider, in der neuen Stadt etwas aus sich gemacht zu haben. Margit Dobronyi, 1913 in eine Rabbinerfamilie geboren, überlebte die Schoa im Budapester Ghetto. Nach dem Ungarnaufstand 1956 flüchtete sie mit ihren Kindern nach Wien und kaufte sich eine Kamera. Heute würde man die Autodidaktin und alleinerziehende Mutter als Powerfrau bezeichnen.
Max
Berger - Der Sammler und die Erinnerung
Max Berger wurde 1924 im galizischen Gorlice geboren. Als einziger seiner Familie überlebte er die Schoa und kam noch vor 1950 nach Wien. 1960 gründete er eine Möbelfirma, knapp davor hatte er begonnen, Judaica zu sammeln. Die Wohnung von Trude und Max Berger wurde bald zu einem Privatmuseum und Treffpunkt von Judaisten aus aller Welt. 1987 schrieb Berger: „Zuerst war mein Augenmerk auf die religiös-jüdische Kunst gerichtet, die in der Synagoge und im Haushalt Verwendung findet. Für mich sind es lebendige Objekte, die gelebt und gewirkt haben.“ Berger war der erste Jude im Nachkriegs-Wien, der versuchte, die zerstörte europäisch-jüdische Welt mit den noch auffindbaren Zeugnissen zu rekonstruieren. Er sicherte diese übrig gebliebenen Dinge, indem er sie kaufte, sie in weiterer Folge wissenschaftlich erforschen ließ und sie schließlich der Stadt Wien für ein neuzugründendes Jüdisches Museum übergab. Das Museum erforscht heute die Provenienzen der Objekte.
Nancy
Spero - Installation der Erinnerung
In ihrer Wand-Installation von 1996 setzte sich die New Yorker Künstlerin Nancy Spero (1926–2009) mit der jüdischen Geschichte Wiens, aber auch mit ihrer eigenen jüdischen Identität auseinander, die sie besonders durch die Schoa geprägt sah. Die Arbeit entstand unter anderem in Dialog mit der Sammlung Berger. Davon zeugen nicht nur Darstellungen von Ritualgegenständen, sondern auch Max Bergers Widmungsschrift an seine in Auschwitz und Treblinka ermordete Familie. Seit den 1970er Jahren hatte die feministische Künstlerin den Anspruch, die Welt mithilfe von Frauendarstellungen neu zu beschreiben. Auch hier dominieren Frauen wie die Tänzerin Gertrud Kraus, die Sängerin Fritzi Massary oder die Makkabi-Sportlerinnen. Überraschenderweise bezog Spero jedoch zum ersten Mal auch wieder Darstellungen von Männern ein, darunter Gustav Mahler oder von der SS bedrohte Juden vor dem Wiener Stadttempel im März 1938.
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