Mehr als nur Noten: Komponieren mit Frequenzen

Wie elektronische Instrumente die Musikkomposition für immer verändert haben

Oskar Sala – Mixtur TrautoniumOriginalquelle: Musikinstrumenten-Museum

Komponieren mit Frequenzen

Elektronische Musikinstrumente klingen anders als traditionelle Musikinstrumente. Also klingt auch elektronische Musik anders als traditionelle Musik. Logisch, werden Sie sagen, und das natürlich zu Recht. Doch ist es nicht nur der reine Klang von Musik, der sich mit der Erfindung elektronischer Instrumente für immer verändert hat. Der Einschnitt war viel weitreichender, viel grundsätzlicher – Komponisten waren plötzlich nicht mehr auf die klassische Notenschrift festgelegt, um den Melodien und Ideen in ihrem Kopf Leben einzuhauchen. In dieser Onlineausstellung möchten wir die Geschichte der Komposition aus einem ganz neuen Blickwinkel erzählen, der über traditionelle Konzepte wie Tonhöhe, Melodie und Harmonielehre hinausgeht. Im Mittelpunkt sollen die Instrumente und ihre Entwicklung weg von den Schlaginstrumenten im Orchester hin zu den ersten elektronischen Musikexperimenten der Nachkriegszeit stehen.

Still Life with Books, Sheet Music, Violin, Celestial Globe and an Owl (1645 - 1650) von Campen, Jacob vanRijksmuseum

Bis ins frühe 20. Jahrhundert beschäftigte sich die Musiktheorie hauptsächlich mit Noten. Sie, so die herrschende Auffassung, konnten alles ausdrücken, was ein Musikstück ausmacht: Melodie, Takt, Instrumentation und Dynamik. Wie sich ein Stück tatsächlich anhörte, war weniger wichtig und für die Theoretiker eher eine Frage der Darbietung als der eigentlichen Komposition. Eine geschriebene Note allerdings sagt nichts aus über Klangfarbe oder Klangqualität. Auch wenn die Note dieselbe ist: Der Klang einer Flöte und der eines Beckens könnten unterschiedlicher kaum sein.

Von Margaret Bourke-WhiteLIFE Photo Collection

Schlaginstrumente im Orchester

Schlaginstrumente mit ihren komplexen, fast schon an reinen Lärm erinnernden Klängen lassen sich mit der traditionellen Notenschrift am wenigsten genau erfassen. In Stücken für Trommel und Becken wird in der Regel jedes Instrument als Einzelstimme notiert und statt der unklaren Tonhöhe einer Note nur ihr Takt angegeben. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen viele Komponisten, bewusster mit neuen Klängen und Klangfarben zu experimentieren und mehr und mehr Schlaginstrumente in ihren Orchesterstücken einzusetzen. Damit erweiterten sie das akustische Spektrum beträchtlich.

Mahler 6 Hammer Strike!Originalquelle: YouTube

Gustav Mahler erfand für seine 1904 komponierte 6. Sinfonie eigens ein vollkommen neues Instrument: den Mahler-Hammer, bestehend aus einer großen Resonanzkiste und einem schweren, überdimensionierten Holzhammer. Dieser Koloss setzte einen wahrhaft donnernden Höhepunkt zum Abschluss des dramatischen vierten Satzes.

Richard Wagner – Tristan IntroductionOriginalquelle: Wikimedia

Das Ende der funktionellen Harmonie

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Musik vollends von den Regeln und Einschränkungen der klassischen Harmonielehre gelöst. Richard Wagner beispielsweise verwendete im ersten Aufzug seiner Oper „Tristan und Isolde“ eine vollkommen neue Notengruppe, die als Tristan-Akkord in die Musikgeschichte eingehen sollte. Schon die Notenzusammenstellung an sich war äußerst unorthodox, bestand sie doch nicht aus den traditionellen Terzen, sondern aus einer Reihe von Quarten. Wichtiger aber – und der Grund für die enorme musikalische Tragweite des Tristan-Akkords: Die klassische funktionelle Musiktheorie konnte und kann ihn bis heute nicht deuten. Damit war Wagner einer der ersten Komponisten überhaupt, die Noten rein wegen ihres tatsächlichen Klangs auswählten, nicht wegen ihrer musiktheoretischen Funktion. Durch die mehrdeutige Dissonanz der Noten entsteht beim Zuhörer ein Gefühl von Anspannung und Unbehagen.

Arnold Schoenberg, 5 Orchesterstücke op.16, III.Originalquelle: YouTube

Den in Österreich geborenen Komponisten Arnold Schönberg kennen die meisten wahrscheinlich als Erfinder der Zwölftontechnik, nach deren Regeln alle chromatischen Halbtöne gleichberechtigt sind und es kein tonales Zentrum gibt. Er war aber auch maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich die Musikwelt bei der Komposition mehr und mehr auf die Klangfarbe und den Klang selbst konzentrierte. 1911 stellte er die Behauptung auf, die Tonhöhe sei nur ein Teilaspekt eines umfassenderen Konzepts, das er Tonfarbe nannte – und dazu nicht unbedingt der wichtigste. Schönbergs Orchesterstücke op. 16 (3) sind ein gutes Beispiel für sein außerordentlich wirkungsvolles Spiel mit Tonhöhe, Tondauer, Amplitude, Klangfarbe und Artikulation.

Geräusch-MaschinenOriginalquelle: Public Domain

Klang trifft Industrie

Während Schönberg und andere Theoretiker an neuen Regeln für die Komposition arbeiteten, machte die Technologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu explosionsartige Fortschritte. Davon inspiriert suchten andere Komponisten nach neuen Instrumenten und Klangquellen. In den 1910er-Jahren wandte sich der futuristische Maler und Komponist Luigi Russolo aus Italien von der klassischen Orchesterbesetzung ab und erfand mit den Intonarumori ein eigenes Geräuschorchester.
 Die Intonarumori enthielten keine elektronischen Komponenten und produzierten ihr breites Spektrum von Geräuschen rein mechanisch – zum Beispiel durch ein sich drehendes Rad, das durch Reibung eine mit einem Resonanzfell verbundene Saite in Schwingung versetzte.

Edgard Varese - IonisationOriginalquelle: YouTube

Edgar Varèse war einer der ersten Künstler, der Musik nicht nur als Notenfolge begriff, sondern als eine Komposition von Klängen. In seiner „Ionisation“ setzte er fast ausschließlich Trommeln sowie ungewöhnlichere Schlaginstrumente wie den Güiro und die Reibtrommel ein. Sogar eine umfunktionierte Sirene fand Verwendung. Dabei ging es Varèse nicht um punktuelle Spezialeffekte – er nutzte bewusst das gesamte Klangspektrum der Instrumente. Bei der Komposition konzentrierte er sich nicht auf die Tonhöhe, sondern auf die präzise Vermischung und Überlagerung unterschiedlicher Klangfarben und Rhythmen.

Tape Machine von Serge LidoOriginalquelle: Serge Lido

Musik auf Band

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts stand Komponisten Technologie für Tonaufnahmen und Tonschnitt zur Verfügung. Jetzt konnten sie ihre Musik im Studio präzise konstruieren, allein und ganz ohne Noten. In dieser Periode entwickelte eine Gruppe französischer Experimentalisten um Pièrre Schaeffer mit ihrer „Musique concrète“ eine neue Kompositionstechnik, bei der mit auf Magnetband aufgenommenen Klängen gearbeitet wurde. Der Komponist konnte unmittelbar Einfluss auf das Klangergebnis nehmen. Allerdings war die Technik alles andere als einfach umzusetzen – zahllose Abschnitte von Kunststofffolie mussten in mühevoller Kleinarbeit geschnitten und wieder zusammengeklebt werden.

Herbert Eimert & Robert Beyer - Klangstudie II (1952)Originalquelle: YouTube

Die Komponisten der 1950er hatten neben der frühen Sampling-Technik der „Musique concrète“ eine weitere revolutionäre Innovation zur Verfügung: Mit Sinus-Tongeneratoren konnten sie nun quasi aus dem Nichts vollkommen neue Klänge erzeugen. Die frühesten elektronischen Musikstücke waren dann auch oft eher Studien, in denen sich die Komponisten in einer laborähnlichen Umgebung mit den neuen Technologien vertraut machten. Herbert Eimert und Robert Bayer zum Beispiel weckten musikalisches Interesse durch die Art eines Klangs an sich, nicht durch seine Tonhöhe oder seine harmonischen Beziehungen.

Karlheinz Stockhausen – Elektronische Studie IIOriginalquelle: YouTube

Auch für Serialisten wie den deutschen Komponisten Stockhausen, der statt mit Noten lieber mit Schönbergs Tonfarben arbeitete, eröffneten sich durch die Klangsynthese nun vollkommen neue Möglichkeiten. Seine Studie II ist hierfür ein perfektes Beispiel. In diesem Werk arbeitet er ausschließlich mit einfachen Sinustönen, die von einem Frequenzgenerator erzeugt und als zwei Formengruppen notiert werden. Der obere Abschnitt definiert die Intervallweite der Sinustonfrequenzen, die in den einzelnen Tongemischen gespielt werden. Der untere Abschnitt legt ihre Lautstärke im Zeitverlauf fest.

Stockhausen in OsakaOriginalquelle: Archiv Stockhausen-Stiftung für Musik, Kürten

Stockhausens elektronische Experimente inspirierten viele andere Komponisten und Populärmusiker zu eigenen Versuchen mit der neuen Technologie und beeinflussen bis heute die Musikwelt. Der Komponist selbst wurde eine Ikone der Popkultur und ist sogar auf dem Cover des Beatles-Albums „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“ verewigt. Bald widmete er sich neuen und ebenso revolutionären Musikkonzepten – von Raumklanginstallationen in den 70ern bis hin zu seinem berühmten Helikopter-Streichquartett von 1996.

Quelle: Alle Medien
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