Vorbereitung eines Schauspielers (auf Beethoven)

Liev Schreiber über die Aufführung von Egmont im Jahr 2020 und die Verbindung zwischen Beethoven und Shakespeare

Von Google Arts & Culture

Text: Olivia Giovetti, VAN Magazine

Für 2020 waren Aufführungen zahlreicher Werke von Beethoven geplant, aber eines sticht besonders hervor und gewinnt dieses Jahr wieder an Bedeutung: die Musik zu Egmont, die Beethoven für das gleichnamige Trauerspiel von Goethe schrieb. Es handelt von einem jungen Soldaten, der für die Befreiung von der Tyrannei alles opfert – sogar die Liebe und schließlich sein eigenes Leben. Die Geschichte könnte auch von Shakespeare stammen.

Es verwundert daher kaum, dass Liev Schreiber sein Repertoire erweitert und in der Konzertversion von Beethovens Egmont-Suite als Sprecher auftritt, der manchmal auch für Egmont einspringt. Schreibers TV-Rollen reichen von Orson Welles über Sabretooth bis Ray Donovan, aber er spielte auch Shakespeare im Fernsehen und im Theater, unter anderem in Der Sturm, Macbeth, Hamlet, Othello und Henry V. Mit dem Orpheus Chamber Orchestra und der Sopranistin Karen Slack trat er in einer neuen englischen Übersetzung des Egmont von Theaterautor Philip Boehm auf. Statt des geplanten Live-Auftritts wurde die Aufführung im Herbst allerdings als Stream übertragen.

In unserem Interview sprach Schreiber über seine Beziehung zu Beethoven und die Gemeinsamkeiten, die er zwischen der Musik und Shakespeares Werken sieht. Außerdem verriet er, mit welchem Stück von Beethoven er sich auf einen Auftritt vorbereitet.

Liev Schreiber (© United Talent Agency)
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Sie sind in einer Familie aufgewachsen, in der klassische Musik eine große Rolle spielte. Haben Sie da zum ersten Mal Beethoven gehört? 
Ja, meine Mutter kannte sich in der Klassik gut aus und mein großer Bruder war klassischer Musiker. Als ich noch sehr klein war, hatte meine Mutter einen Freund, der klassischer Pianist war. Er spielte überwiegend Bach, aber Beethoven zählte zu den Lieblingskomponisten meiner Mutter.

Wissen Sie noch, welches das erste Werk war, das Sie gehört haben? 
Ich glaube, das war die Fünfte [Sinfonie] in der Grundschule, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Ich weiß nur noch, dass es im Unterricht durchgenommen wurde… Vermutlich stand irgendwann auch die „Ode an die Freude“ auf dem Lehrplan. Wie ich meine Mutter kenne, wurde zu Hause wahrscheinlich überwiegend die Kammermusik gespielt… Sie war einer dieser Menschen, die ein Stück im Radio hören und dir dann alles darüber erzählen können.

Liev Schreiber narrates Beethoven’s Egmont with the Orpheus Chamber Orchestra, 2020 (© Chris Lee)
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Kannten Sie Egmont schon, als man Ihnen die Rolle anbot? 
 Ich kannte die Ouvertüre, aber ich wusste nicht, wie schön der Rest ist. Ich glaube, das liegt daran, dass meistens nur die Ouvertüre aufgeführt wird – zumindest in den USA. Ich habe gehört, dass das Stück in Europa etwas häufiger auf dem Spielplan steht, aber aufgrund des Textes kennen die meisten Menschen nur die Ouvertüre.

Ja, in Deutschland hat man den Vorteil, dass man Goethe in der Originalsprache hören kann. Das ist wie bei Shakespeare. 
Der Text ist wirklich schwierig. Der Paarreim ist komplex und das Versmaß stark repetitiv. Die Reimform wiederholt sich so häufig, dass es schwierig ist, sich auf den Kontext zu konzentrieren. Beethovens Musik [ist fast wie] eine Oper und er wechselt ständig zwischen Politik und Romantik.

Ich glaube, niemand hatte zu Beginn des Jahres vermutet, wie relevant das Stück an Beethovens 250. Geburtstag sein würde, insbesondere für das amerikanische Publikum. 
Das stimmt. Ich denke, viele in diesem Land haben das Gefühl, dass die Demokratie von einem stark polarisierten Kongress und den Unruhen auf die Probe gestellt wird… Was mir an der Übersetzung [von Philip Boehm] und [der Fassung] gefallen hat, war die Intimität. Das habe ich als interessante Herausforderung empfunden, vor allem, weil es in vielen Punkten so aktuell ist.

Liev Schreiber (© Cédric Buchet)
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Können Sie noch etwas mehr zu der neuen Übersetzung und der Intimität des Textes sagen? 
 Man könnte diesen Text als Hommage an Thornton Wilder und den Spielleiter in seinem Stück Unsere kleine Stadt verstehen. Oder auch an Brecht und seinen Verfremdungseffekt. Die Dichtung und die Handlung wirken keinesfalls künstlich. Es ist eine sehr lebensnahe Beschreibung, die aktuell und vorausschauend wirkt.

Hören Sie Beethovens Musik mit der neuen Übersetzung von Goethes Text jetzt anders? 
Ja, ich habe bei meiner Interpretation versucht, mich nicht auf den Sturm und Drang zu konzentrieren. Ich fand es reizvoll, dass der Text der Musik gegenübersteht, statt mit ihr zu verschmelzen. Es gibt natürlich Momente, in denen es sehr pompös wird, [aber] ich fand es interessant, dem Crescendo entgegenzuwirken und den Text mit einer beinahe nüchternen Nachrichtenstimme vorzutragen. In einigen Szenen ist das natürlich nicht möglich. Wenn man die Figur spielt, lässt man sich von der Musik tragen, die in diesen Momenten inspirierend und ausdrucksstark sein soll. 


Der Tonfall der Schauspieler in Egmont hat also eine eigene musikalische Wirkung. 
Es ist wirklich interessant, wie Beethoven erkannt hat, dass er die politischen Ideen am besten auf einer persönlichen, emotionalen Ebene vermittelt. Politik ist ein schwieriges Thema und wird schnell polemisch, aber mit einer Liebesgeschichte kann man eine intime und emotionale Ebene erreichen. Wenn sich die Zuhörer mit den Leiden der Liebenden identifizieren, können sie auch den intellektuellen Standpunkt und das politische Geschehen besser nachvollziehen. Man fühlt mit Clara und Egmont – und die Musik trägt ganz entscheidend dazu bei. Ihre aussichtslose Liebe wird eine Art Metapher für unseren Glauben und unsere Hoffnung für die Demokratie.

Sie haben viel Shakespeare und klassisches Theater gespielt. Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Stücken von Shakespeare und Egmont? 
Für die Versdichtung verwendete [Shakespeare] den jambischen Fünfheber. Das ist ein relativ einfaches Versmaß, dem sich gut folgen lässt. Alexandriner und Paarreim beispielsweise finde ich viel frustrierender, sie machen mich wirklich wütend. Sie eignen sich gut für Sonette, weil sie so niedlich sind und dadurch fast wie Musik klingen, aber wenn man versucht, eine präzise Geschichte mit Kontext zu erzählen, sind die ständigen Wiederholungen dieser Form hinderlich und für die Zuhörer eher einschläfernd. Sie achten zu sehr auf das Versmaß und vergessen darüber die Handlung und den Kontext. Man folgt dem Rhythmus und achtet nur noch auf den nächsten Paarreim. Daher war ich sehr nervös und habe bewusst versucht, die Reime so oft wie möglich aufzubrechen, damit die eigentliche Geschichte wieder mehr in der Vordergrund tritt, die ohnehin recht komplex ist.

Manchmal sorgt die Musik für Abwechslung, vor allem am Ende bei Egmonts Rede. 
Ja, diesen Teil finde ich besonders gelungen, er ist fantastisch. Das klingt wie ba-rum-pum-pum-pum. Das ist die Rede „Noch einmal stürmt“. Das ist sehr emotional und pompös und passt an dieser Stelle wirklich gut. Es gibt kurz vorher eine Szene, in der er von seiner Vision von Clara spricht und vom Orchester unterbrochen wird, das zwischen jeder seiner Zeilen spielt. An dieser Stelle fand ich das Orchester wunderbar.

Liev Schreiber narrates Beethoven’s Egmont with the Orpheus Chamber Orchestra, 2020 (© Chris Lee)
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Was bedeutet Beethoven für Sie? 
Wissen Sie, es gibt ein Musikstück [von ihm], das ich mir schon seit Jahren anhöre. Es gehört zu meinem Vorbereitungsritual, bevor ich auf die Bühne gehe… Das Streichquartett Nr. 1 in F-Dur. Bei der Vorbereitung konzentriere ich mich auf meine Motivation und meine Gefühle. Und ich finde, Beethoven konnte besser als jeder andere Komponist mit seiner Musik Gefühle imitieren. 
 Daher gibt es bestimmte Musikstücke, die instinktiv die Fantasie anregen und Gefühle wecken, die man dann durchleben kann. Dieses Stück ist für mich ein perfektes Beispiel dafür. Es ist ein Seufzer. Man merkt, wie sich das Gefühl in der Brust ausbreitet, und Körper und Geist auf die Wirkung der Gefühle vorbereitet.

Das ist eine sehr schöne Beschreibung. 
Wissen Sie, Bach ist hervorragend und schön, aber ihn bewundere ich einfach nur. Mozart ist fröhlich, euphorisch und macht gute Laune. Aber Beethoven bringt mich immer wieder zu mir selbst zurück. Oder besser gesagt: Beethoven weckt immer genau die Gefühle in mir, die er wecken wollte… Seine Art, das Orchester für diese Zwecke einzusetzen, ist einfach einmalig. Es fühlt sich wie Atmen an.

Wie bei einer Meditation? 
Auf sehr physische Weise. Es folgt dem natürlichen Atemrhythmus. Zumindest geht es mir so bei diesem Stück. Ganz besonders im Egmont. Die Musik fließt durch dich hindurch und füllt dich aus, wie dein eigener Atem. Vielleicht geht es nur mir so, aber ich habe manchmal das Gefühl, dass er mich körperlich berührt. [Er summt eine Passage aus dem Streichquartett Nr. 1 in F-Dur, die Melodien der Geigen, der Bratsche und des Cellos.] Es steckt auch ein gewisser Rhythmus dahinter, wie der eigene Puls. Das ist das Besondere an ihm: Hat man ihn erst einmal gefunden, ist man gefangen… Der Rhythmus wird zum eigenen Puls und die Streicher kontrollieren den Atem. Man muss sich dem einfach ausliefern.

Mitwirkende: Geschichte

Text: Olivia Giovetti, VAN Magazin

Quelle: Alle Medien
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