Die kleine Tonfigur aus Priene, dem »Pompeji Kleinasiens«, zählt nicht nur zu den bekanntesten Funden aus der von Carl Humann und Theodor Wiegand 1895–1899 ausgegrabenen ionischen Stadt, sondern gehört darüber hinaus zu den berühmtesten antiken Terrakotten überhaupt. Die Prominenz erklärt sich aus der Tatsache, dass ein in der Antike wie in der Neuzeit gleichermaßen beliebtes großplastisches Kunstwerk, der sogenannte Dornauszieher, hier in einer kleinformatigen und noch dazu parodistischen Variante reproduziert worden ist.
Das in das späte 3. Jahrhundert v. Chr. zu datierende Urbild ist uns nur in römischen Kopien der Kaiserzeit überliefert, die meisten von ihnen aus Marmor – darunter auch das Exemplar in der Antikensammlung –, aber auch in einer Replik aus Bronze, dem sogenannten Spinario im Konservatorenpalast auf dem Kapitol in Rom. Bei allen Unterschieden im Detail zeigen die sechs erhaltenen lebensgroßen Wiederholungen übereinstimmend einen gänzlich unbekleideten Jungen auf einem Felssitz, das linke Bein auf dem rechten Knie abgelegt, den Oberkörper vornüber gebeugt und damit beschäftigt, sich einen Dorn aus dem Ballen des linken Fußes herauszuziehen. Lediglich bei zwei dieser Statuen ist der Kopf erhalten, wobei die Zugehörigkeit des Bronzekopfes im Konservatorenpalast jüngst in Zweifel gezogen worden ist. Die beiden Köpfe sind zwar völlig unterschiedlich gestaltet, haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Sie tragen keine Kopfbedeckung.
Damit sind auch schon die wichtigsten Abweichungen der Berliner Terrakottastatuette aus Priene gegenüber den Bronze- und Marmorstatuen benannt: Abgesehen vom reduzierten Format unterscheidet sich der prienische Dorn- auszieher von den großplastischen Repliken dadurch, dass er eine schräg über den Oberkörper geführte und auf der linken Schulter geknotete Schärpe trägt, außerdem eine flache, filzkappenartige Kopfbedeckung sowie einen Reif um den linken Oberarm. Das Gesicht mit seinem überlängten Kieferbereich, den zusammengepressten Lippen und aufgeblähten Wangen, der ebenso platten wie breiten Nase, den zusammengekniffenen Augen und der in Falten geworfenen hohen Stirn erscheint wie eine groteske Verzerrung der großplastischen Dornauszieherköpfe, selbst des ›naturalistischen‹ Kopfes der Replik Castellani im British Museum.Tracht und Physiognomie weisen den Dargestellten als »Banausen«, einen ungebildeten, grobschläch- tigen Vertreter einfacher Bevölkerungsschichten aus, in diesem Fall als Hirten. Hierzu passt auch das für griechische Verhältnisse überdimensionierte Genital, welches der Hirtenjunge in dieser ›anstandslosen‹ Pose dem Betrachter darbietet. Die von einigen Forschern ausgesprochene Interpretation als Schwarzafrikaner ist unzutreffend.
Die Statuette ist eine eigenständige, anspruchsvolle Umdeutung des großplastischen Vorbilds. Beide, Vorbild und Reproduktion, stehen in der Tradition der hellenistischen bukolischen Dichtung, deren wichtigster Vertreter Theokrit war. Das Leben einfacher Leute, vor allem der Landbewohner, wird in humoristischer Weise thematisiert. Die Tonstatuette, die vielleicht als Ausstattungselement im Andron des prienischen Hauses zusammen mit anderen tönernen und marmornen Kunstwerken stand, parodiert das Vorbild und bereichert es um eine Reihe von Anspielungen, etwa an die Sphäre der Aphrodite (Oberarmreif!). Durch den Fundkontext ist die Statuette sicher in die Zeit vor 135 v. Chr. zu datieren und stellt somit den ältesten erhaltenen Reflex des verlorenen Urbilds dar.
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