Ein braver Junge

Einen seltsam melancholischen Eindruck hinterlässt das qualitätvolle Bildnis eines etwa fünfjährigen Knaben beim modernen Betrachter. Das leicht zur linken Seite gewandte Köpfchen sitzt über einem dünnen Hals auf einer nackten Schulterbüste. Das Gesicht kennzeichnen große mandelförmige Augen mit deutlich angegebenen Karunkeln, metallen wirkenden, über die Augäpfel vorkragenden Oberlidern und sanft gewölbten Brauenbögen, eine relativ breite, markant geschnittene Nase und ein voller, schön geschwungener Mund über einem kleinen prononcierten Kinn. Zusammen mit den nach unten gezogenen Mundwinkeln bewirken die schlaffen, nur wenig strukturierten Wangen den etwas traurig anmutenden Gesichtsausdruck.
Die Haare sind, ausgehend von einem großen Wirbel am Hinterkopf, in langen sichelförmig gebogenen Strähnen nach vorn in die Stirn und seitlich über die Ohren in die Schläfen gekämmt. Über der Nasenwurzel teilen sich die Strähnen in Form einer Gabel und geben den Blick frei auf feine, kurzgeschnittene Härchen, die fransenartig in die Stirn fallen.
Die Frisur des Knaben findet sich ganz ähnlich schon an den Knaben- und Jugendbildnissen des Nero. In ihrer spezifischen Ausführung ist sie jedoch kennzeichnend für Knaben- und Männerporträts aus der Zeit des Kaisers Trajan. Auch die Gestaltung von Inkarnat und Haar entspricht der klassisch beruhigten Formensprache trajanischer Zeit. Der relativ kleine Büstenausschnitt, charakteristisch für Büsten aus flavischer Zeit, verweist indes auf eine Entstehung des Porträts in den ersten Regierungsjahren Trajans.
Die Büste wurde vom Vicomte de Beugnot, vermutlich auf einer seiner vielen Reisen in Italien erworben und dürfte aufgrund der hohen handwerklichen Qualität aus einer stadtrömischen Werkstatt stammen. In römischer Zeit gab oftmals der frühe Tod eines geliebten Kindes den Anstoß zur Herstellung eines Porträts, wobei die dem verstorbenen Kind abgenommene Totenmaske aus Wachs dem Bildhauer als Vorlage dienen konnte. Auch wenn die Herkunft unserer Porträtbüste aus einer Villa oder Domus nicht auszuschließen ist, spricht der exquisite Erhaltungszustand doch eher für die Vermutung, dass sie ursprünglich im Grabmal einer begüterten Familie aufgestellt war.
Allerdings ist sehr zu bezweifeln, dass das Bildnis die ganze Trauer und Hoffnungslosigkeit eines kränklichen Knaben zum Ausdruck bringen sollte, wie dies in der modernen Forschung immer wieder behauptet worden ist. Diese Art der psychologisierenden Deutung steht völlig im Gegensatz zur antiken Bildnisauffassung. Auch unterschied sich die ursprüngliche Wirkung des Porträts durch die einst zweifellos vorhandene farbige Fassung deutlich von der heutigen. Insbesondere die Augen, deren Blick wiederholt als müde und leer beschrieben wurde, erhielten durch die farbig angegeben Pupillen und Wimpern Leben und Strahlkraft.
Sehr viel eher führt uns das Porträt den Dargestellten als mustergültiges Beispiel eines disziplinierten und wohlerzogenen Knaben vor Augen.