Ein vornehmes Mädchen

Der Typus der schlanken, bisweilen über vier Meter hohen Stele mit gewöhnlich nur einer im Profil wiedergegebenen Figur ist unter den archaischen Grabmälern Athens besonders verbreitet. Im späteren 6. Jahrhundert v. Chr. sind in Attika neben den zahlreichen einfigurigen auch einige zweifigurige Grabstelen geschaffen worden. Zu einem solchen Bild aus dem Jahrzehnt 540–530 v. Chr., dessen größerer Teil nach New York gelangt ist, gehört das Berliner Fragment mit dem wunderbar zarten Kopf eines jungen Mädchens. Zwei größere Bruchstücke des hinter ihr stehenden Knaben befinden sich im Athener Nationalmuseum. Über der gemeinsamen Grabstätte von zwei gleichzeitig verstorbenen Geschwistern aus dem athenischen Adelsgeschlecht der Alkmaioniden errichtete der Vater um 530 v. Chr. eine etwa 4,10 Meter hohe, schlanke Grabstele, die den heranwachsenden Sohn und die kleine Tochter vereint nebeneinander stehend zeigt. Während den Jüngling in New York ein kleines Ölgefäß am Arm als jungverstorbenen Athleten kennzeichnet, ist seine kleine, mit Chiton und Schultermantel bekleidete Schwester ganz ohne Angabe kindlicher Züge als verkleinerte Kore dargestellt. Das Mädchen hält wie viele ihrer rund plastischen Vorbilder eine Blüte in der erhobenen linken Hand, ihr nach New York gelangter Bruder einen Granatapfel. Das subtil modellierte Gesicht des Mädchens mit dem noch in Vorderansicht gezeigten, mandelförmigen Auge und der präzise stilisierten Haarwiedergabe belegt, dass wir hier das Werk eines der besten Bildhauer des spätarchaischen Athen vor uns haben. Gut sichtbare Reste roter Farbe im Auge und den Haaren erinnern daran, dass die Wirkung dieses sehr flach angelegten Reliefs ganz auf die ergänzende Farbfassung berechnet war. Als Stelenbekrönung und Wächterin des Grabes dient eine schlanke, angespannt hockende Sphinx auf einem hohen Volutenkapitell.