11.05.2006
Die Zeit
Den Animateuren wird der Hof
gemacht, zum Beispiel in Berlin, wo das ehrwürdi-
ge Haus der Kulturen der Welt sechs Wochen lang
zum brasilianischen Zentrum wird: der Musiker
und Kulturminister Gilberto Gil zur Eröffnung am
Mikrofon, Samba-Trommeln und Caipirinha im
Tiergarten, in unmittelbarer Nachbarschaft des
Bundespräsidenten, in Hörweite zum Kanzleramt
und hohen Haus. Nicht nur die Mächtigen, auch
die missmutigen Berliner müssen sich auf einiges
gefasst machen.
Landauf, landab nehmen katholische wie evan-
gelische Kirchen die frohe Botschaft auf, lassen den
Spaß in ihre Gotteshäuser hinein und nehmen ihn
in ihr Programm auf. Die ersten Videobeamer
brummen in den Sakristeien schon vor sich hin, Ge-
neralprobe für die Übertragung der WM-Spiele
vom 9. Juni an. In den Hinterhöfen der Republik
werden schon jetzt zusammengenähte Bettlaken als
Leinwandersatz probeweise aus den Fenstern
gehängt. Public viewing durch Handarbeit, wie
geschaffen für ein nachbarschaftliches WM-Wir-
gefühl über alle Maschendrahtzäune hinweg.
Plötzlich haben Lufthansa-Flugzeuge Fuß-
ballnasen, karren Rudi Völler und Günther
Jauch im Werbefernsehen WM-Biervorräte
nach Hause, versprechen sonst zugeknöpfte
Bankmanager Zinsgutschriften für deutsche
fachhandel mit der Erstattung von zehn Euro für
Fußballsiege. Prompt reagiert der Elektronik-
jedes Tor der deutschen Mannschaft,
ausge-
nommen Elfmeterschießen. Im öffentlich-
rechtlichen Fernsehen, Glückes genug, werden
Frauen fürs Kinderkriegen von Harald Schmidt
mit WM-Eintrittskarten belohnt, und in den
Metzgereien zieren niedliche Fußballmuster die
Dauerwurst.
/ Politik
S. 8
Wenn
Deutschland früh ausscheidet,
laufen wir über zu den Brasilianern
Ein Land spielt wie verrückt, eine Nation wird
für vier Wochen zum Kind. Wer Kinder nicht
mag, bekommt zwangsläufig Schwierigkeiten.
Sei es drum, wir müssen dieser Stelle auf Jür-
gen Klinsmann zu sprechen kommen. Der Mann
birgt Risiken. Denn von ihm hängt ab, wie lan-
die Party dauert, wie lange wir Kind bleiben
dürfen.
Ist er größenwahnsinnig? Oder doch ein Ge-
nie? Hat er eine Deutschland-Phobie? Oder liebt
er sein Vaterland heimlich? Warum macht er jetzt
mit den Seinen Urlaub auf Sardinien? Muss er
uns frühzeitig das Vorrunden-Aus erklären? Wer-
den wir ihn dann jemals wiedersehen? Oder wird
er uns erretten? Im Halbfinale, im Finale gar?
Was dann? Rettet er am Ende auch den Rest von
Deutschland? Acht Wochen noch!
2/3 Pressespiegel
Wer jemals eine Ehetherapie besuchte, weiß
um die folgenden Sätze aus dem Grundwort-
schatz des Psychologen: Das Schlimmste sind
die Erwartungen« - und: »Man muss loslassen
könnena. Fußballdeutschland kann von Klins-
manns Truppe eigentlich nichts erwarten. Ein
entspannender Gedanke: Die Abwehr um Per
Mertesacker genügt genauso wenig den Stabi-
litätskriterien wie der Haushalt von Peer Stein-
brück. Was kein Kalauer ist, sondern die nackte
Wahrheit - und dazu noch eine angenehme. Als
Streber
waren wir über die Jahre
hinlänglich be-
kannt. Nur, von Strebern lässt man sich nur un-
gern einladen, Streber sind auf Partys selten will-
kommen. Jetzt sind wir gern gesehen.
Erstaunlich für einen Beitrag zur Titelge-
schichte auf der Seite eins der ZEIT: In den letz-
ten 150 Zeilen war nicht einmal von Globali-
sierung, von Europa und Reformen die Rede,
von George W. Bush oder Ursula von der Ley-
en. Und? Hat Ihnen etwas gefehle? Keine Angst,
diese Themen gehen nicht verloren. Aber nur für
ein paar Wochen könnte das doch jetzt eigent-
lich so weitergehen, oder? Ersparen wir uns in
die
dieser Zeit
, zumindest in diesem Beitrag,
Frage nach dem Cui bono, nach Gewinn und
Ertrag, nach Relevanz
und Nachhaltigkeit. Ein
Volk macht Urlaub von sich selbst. Vier Wochen
lang.
Das muss erlaubt sein. Die letzte große
WM-Party in Deutschland liegt immerhin 32
Jahre zurück.
Und wenn der schöne Traum dieses Sommers
jäh endet? 0:1, das Aus in der Vorrunde - auch
gut. Keine Rede von Schande, keine Depression.
Dann lassen wir eben los. Man sieht sich bei den
Brasilianern.
Weitere Informationen im Internet:
www.zeit.de/fussball
Audio www.zeit.de/audio