27.5. 2006
Gilberto Gil umdribbelt singend
und Gitarre spielend seinen Licht-
fleck auf der Bühne. Ein Kultur-
minister mit bewegtem Lebenslauf
und Rastazöpfen, das gefällt auch
politikverdrossenen
Deutschen
Gil wuchs in Bahia auf, war Tor-
wart und als Sänger maßgeblicher
Teil der Tropicalia-Bewegung, je-
ner musizierenden Kulturrevoluti-
on der sechziger Jahre. Es ging um
politische und sexuelle Liberali-
sierung und um dauerhafte kultu-
relle Offenheit. Als Gil eine elek-
trische Gitarre anschloß, erntete er
faules Obst. Die Diktatur sperrte
ihn ein, er floh nach London und
New York, lernte Bob Marley ken-
nen, sonderbare Rock- und Jazz-
musik und kehrte um so tatendur-
stiger zurück. Gilberto Gil wurde
zum Volkshelden. Er sang auf dem
,,Big Brother"-Sofa ,,Não Chore
Mais" mit den TV-Idioten, ohne
seine Würde zu riskieren und zog
ähnlich schadlos ein ins Kabinett
Lula da Silvas. Die Regierung pla-
gen Korruptionsaffären und der
Zivilisationszusammenbruch in
Sao Paulo, Gil reist mit den Fuß-
ballern nach Deutschland, um ge-
meinsam gute Laune zu verkör-
pern und den ganzen Stolz Brasi-
liens. Música und Futebol.
Die Welt
/ Feuilleton
Er spielt vor einer Viererkette,
zwei Percussionisten innen, außen
einer für Akkordeon/Synthesizer
und ein Gitarrist, der selbst die
angestammte Cavaquinho unter
Strom setzt. Das erzählt nicht nur
von Gils Kulturverständnis, son-
dern von Brasilien überhaupt. Es
wirft nicht eine dumme Frage auf,
wenn hier Bob Marleys Song
,, Three Little Birds" als Samba
hingerasselt wird oder „Imagine"
von John Lennon als verkitschter
Bossa. Es geht um erhöhte Tem-
peratur. Darum, durchs schmuck-
lose Gestühl des Weltkulturenhau-
ses von Berlin zu tänzeln, den WM-
Titel 2006 schon einmal vorzufei-
ern oder im Foyer die Übertragung
des Konzerts auf einer Großbild
leinwand fiebrig zu verfolgen wie
ein Spiel.
Gilberto Gil spricht unablässig
über Fußball und Brasilien. ,,Aus-
druck unserer kulturellen Seele",
,,Streben nach Schönheit", ,,Spon-
taneität“, ,,Verführung“, „Intuiti-
on“, „Optimismus“, „Spirituali-
S. 30
tät", ,,Kreativität". Den Deut-
schen, sagt Gil, zeichne sein Kör-
aus ,,den
perbewußtsein
Brasilianer eine kollektive, kör-
perliche Unbewuſtheit" Er
schwärmt von ginga, der Elastizi-
tät des Leibs, wie von der Weib-
lichkeit des Balls, bola, was eine
längere Belehrung über Ball und
Mond und Liebe nach sich zieht.
Das ist natürlich alles hinreißender
Mumpitz. Doch der Ton in Stadi-
onkurven mag zwar rauher klingen
als in Esoterikzirkeln, die Betrach-
tungs- und sogar die Ausdrucks-
weisen ähneln sich schon sehr.
Der wahre Kern bleibt das Ge-
fräßige der brasilianischen Kultur
Das kannibalische Prinzip, das be-
reits Osvald de Andrades ,,Mani-
festo Antropófago" beschrieb. Wie
Rock im Bauch von Sao Paulo,
HipHop in den Armenvierteln Rios
mit
oder Reggae bei Gilberto
unstillbarem Appetit verwandelt
wird, verdaut ein ganzes Land
Europas Fußball, seit der Englän-
der Charles Miller 1894 einen Ball
mitbrachte. Bis zur gnadenlosen
Effizienz von heute. Dieses Land
wäre vermutlich längst ver-
schwunden in den eigenen sozialen
Brüchen, wenn es sich durchs Ein-
verleiben von Musik und Fußball
nicht beständig neu verklammerte.
Wie Jackson do Pandeiro einmal
sang: 0 Rei Pelé", König Pelé.
Wer Fußball und Kultur in eins
setzt, darf sich nicht benehmen wie
ein Denker oder Dichter. Sondern
wie ein Fan. Gilberto Gil wischt
alle Widersprüche mit einem Gi-
tarrenschwenk beiseite, macht be-
geisternden Radau und scheut kein
Pathos. Er hat zur WM ein Lied
geschrieben, „,0 Balé de Berlin":
,,Der Mensch lebt nicht vom Brot
allein - es lebe die Seleção." Das
ist durchaus ernst gemeint und
dient Brasilien als Kulturbeitrag
und Schlachtgesang.
Musikalische Höhepunkte der Co-
pa da Cultura in Berlin: 10.6. Na-
ção Zumbi, 16. Chico Buarque, 24.
Jorge Ben, 8.7. Daniela Mercury
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