Junge Welt / Feuilleton S. 13
klammerte, probten Veloso, Gilberto
Gil, Gal Costa, die Mitglieder der Band
Os Mutantes, Tom Zé und andere ästhe-
tisch und inhaltlich den Aufstand. Sie
wurden von den damals regierenden
Militärs verhafter, die sich an den kriti!
schen Texten störten, später unter Haus-
arrest gestellt und mußten schließlich
ins Exil nach London gehen.
Doch die Tropicalia war mehr >>Mo-
ment« denn Bewegung«, wie die
Kritikerin Flora Süssekind im Ausstel-
lungskatalog überzeugend darlegt: ein
interdisziplinäres Ausloten der Mög-
lichkeiten der Repräsentation der brasi-
lianischen Kultur gegen Ende der 60er
Jahre, die Musik, Tanz, bildende Kün-
ste, Film, Mode, Design und Architek-
tur durchdrang und bereits 1972 mit der
Rückkehr der Musiker Caetano Veloso
und Gilberto Gil aus dem Londoner Exil
zu Ende ging. Die Tropicalistas waren
geeint in ihrem Widerstand gegen die
gesellschaftlichen und politischen Um-
stände jener Zeit: Gegner der Militärs,
die durch einen Staatsstreich im Jahr
1964 die Regierungsmacht übernom-
men hatten, und kritisch gegenüber den
sich immer mehr verschärfenden so
Interessant
wird's eher in
den peripheren
Vierteln
zialen Differenzen zwischen Arm und
Reich, zwischen Schwarz und Weiß.
Die letzte Ausstellung vor der Re-
novierung des HKW (Mitte 2006 bis
2008) strahlt bereits jetzt den spröden
Charme von Baustellen aus: Ein Teil
der Exponate wird in aus Gerüststützen
zusammengeschraubten Schaukästen
präsentiert. Die Ausstellung besteht
aus vier Sektionen: Theater, Bilden-
de Kunst, Architektur und allgemeine
Informationen zur Zeit von 1967 bis
1972. Die Musealisierung der legen-
dären Schau soll durch den doppelten
Blick vermieden werden: Zum einen
durch eine Untersuchung des histori-
schen Kontexts, zum anderen durch die
Analyse des Echos des Tropicalismo
auf die aktuelle Kunstproduktion in
Brasilien. Im Ausstellungsteil » Inter-
ventions werden Arbeiten von vier
zeitgenössischen Künstlern gezeigt,
die an die Prämissen der Tropicalistas
anknüpfen: Improvisation, Kreativität
und Leichtigkeit - fast unbemerkt fällt
dabei die Negation unter den Tisch,
ohne die jener »Moment« überhaupt
nicht zu denken ist.
2/2 Pressespiegel
Doch in einer Zeit, in der der ehe-
malige Mitstreiter von Veloso Gil-
berto Gil nach seinem »Marsch durch
die Institutionen« zum Kulturminister
aufgestiegen ist und die vollmundigen
Versprechen von Staatspräsident Inacio
>>Lula da Silva von der Arbeiterpartei,
den Hunger im Land abzuschaffen, bis-
her unerfüllt geblieben sind, haftet auch
der bildenden Kunst
Brasiliens wieder
etwas extrem Elitäres an. Während sich
die weiße Mittelschicht und die Ober-
schicht in gated communities immer
stärker von dem Alltag der schwarzen
und gemischten Bevölkerungsmehrheit
abschottet, vermutet man die wirklich
interessanten kulturellen Entwicklun-
gen eher in den peripheren Vierteln, in
den Favelas mit ihrem Straßentheater,
ihren unabhängigen Filmproduktionen
und neuen elektronischen Musikstilen
denn in den architektonischen Licht-
spielereien von Lucia Koch oder dem
interaktiven Mythengenerator von Dia-
na Domingues und der Artecno Group
UCS - Brazil, der auf krampfhafte Wei-
se den Betrachter einlädt, sich neue My-
then zu schaffen, anstatt die Arbeit an
bestehenden voranzutreiben. Vergessen
werden darf auch nicht, daſs die Aus-
stellung im Rahmen der vom brasilia-
nischen Kulturministerium initiierten
Copa da Cultura (etwa >>Kultur-WM«)
irgendwie nur das repräsentativ-bun-
te Begleitprogramm zu den momen-
tan omnipräsenten und überbezahlten
Männerkörpern darstellt.
>> Tropicalia, Interventions und Fuß-
ball, Festival und Ausstellung, Haus
der Kulturen der Welt, Berlin-Tiergar-
ten, bis 9. Juli