29.06.2006
Junge Welt / Feuilleton
Aus Favelas
Brasilianer haben nicht nur Fußball im Kopf
der >>Moment«, als Caetano Veloso
zur Elektroklampfe griff. Von Timo Berger
V
ier Holzpaneele sind auf aus-
gestreutem Sand zu einer Box
montiert. Die Installation »A
pureza é um mito«, etwa »Reinheit ist
Mythos«, von Hélio Oiticica (1937-
1980) ruft die prekäre Architektur
brasilianischer Favelas in Erinnerung.
Durch eine Tür kann der Betrachter
das hüttenähnliche Objekt von 1967 be-
treten - eine Arbeit, die entsprechend
der programmatischen Vorstellungen
Oiticicas die Interaktion des Publikums
herausfordern und dessen Sinne akti-
vieren soll: Während unter den Schuhen
der Sand knirscht, befindet man sich in
einer Kunstausstellung und wähnt sich
doch sensorisch an der Peripherie brasi-
lianischer Metropolen. Gleichzeitig ne-
giert der Titel der Arbeit die nostalgisch
verklärte Suche nach Ursprüngen und
verwehrt sich dem Ansinnen der Tradi-
tionalisten, Kultur als ein gegen fremde
Einflüsse zu bewahrendes Set von über-
lieferten Praktiken festzuschreiben. Die
Frage nach der nationalen Identität,
folgt man Oiticicas Statement, muß in
der Anerkennung von Mischungsphä-
nomenen, in der Diversität und Hy-
bridität der Kultur Brasiliens verortet
werden.
S. 13 1/2 Pressespiegel
Oiticicas Box ist eines der zentra-
len Werke der am Samstag im Berliner
Haus der Kulturen der Welt (HKW)
eröffneten Ausstellung Tropicalia
-eine brasilianische Kulturrevolution«,
die vorher bereits Station in London
gemacht hat. In den brasilianischen Fa-
velas, die im Zuge der Landflucht und
des explosionsartigen Wachstums der
brasilianischen Städte entstanden, ver-
mischten sich die ländliche Architek-
tur und Lebensweise mit dem urbanen
Alltag der Megastädte São Paulo und
Rio de Janeiro.
Eine junge Kunstszene
versuchte ab Mitte der 60er Jahre, im
Spannungsfeld zwischen der Kunst der
europäischen und US-amerikanischen
Metropolen und der brasilianischen
Lebenswirklichkeit einen neuen Weg
einzuschlagen, um das elitäre Ghetto
der bildenden Kunst zu verlassen: Der
Tropicalismo war geboren. Dieser Ge-
stus der Geburt findet sich auch in der
Arbeit von Lygia Pape, einer Reihe von
Würfeln, in denen sich in der ursprüng-
lichen Ausstellung Menschen verbar-
gen, die dann während einer Perfor-
mance durch die Plastikummantelung
schlüpften, um buchstäblich das Licht
der Welt zu erblicken.
Unter dem abblätternden Decken-
putz des großen Ausstellungsraumes
des HKW hat der argentinische Gastku-
rator Carlos Basualdo (verantwortlich
für einen Teil der dokumenta II und der
Biennale in Venedig 2004) diese und
andere Arbeiten der von Oiticico 1967
im Museo de Arte Moderno (MAM) in
Rio organisierten Ausstellung »Neue
Brasilianische Objektivität« rekonstru-
iert, die den Beginn eines radikalen Um-
bruchs in der brasilianischen Kultur
markiert hat: Für Basualdo stellt
der als Tropicalia« bekannt ge-
wordene lose Zusammenschluß
von brasilianischen Künst-
lern verschiedener Dis-
ziplinen sogar eine »kul-
turelle Revolutiondar.
Ein Bezugspunkt war dabei
das »Manifesto atropófago«
des Modernisten Oswald de
Andrade (1890–1954) von
1928: Bis dato haftete der
Kultur der ehemaligen
Kolonien immer der Ma-
kel des Sekundären, der
mangelhaften Kopie der
Metropolenkunst an.
Die Anthro-
pophagisten forderten nun, statt
sich auf die vermeintliche Origi-
nalität der eigenen Wurzeln zu
besinnen und gegen die Einflüsse
von außen abzuschotten, das Fremde zu
verschlingen und halbverdaut und neu
zusammengewürfelt mit dem Eigenen
wieder auszuspeien.
Einer, der dieser Maxime folgte, war
der Musiker Caetano Veloso aus Bahía.
In Anspielung auf die Arbeit von Oitici-
ca nannte er sein 1968 erschienenes Vi-
nyl-Album Tropicalia ou panis et cir-ul
censis« und mischte Bossa Nova, Volks-
musik, US-amerikanische Rockmusik
und Einflüsse der E-Musik-Avantgarde.
Erstmals hatte Veloso 1967 beim vom
Fernsehen übertragenen Dritten Festi-
val für Brasilianische Volksmusik in
São Paulo zur Elektroklampfe gegrif-
fen. Ein Skandal für die Puristen der
brasilianischen Volksmusik; heute sind
Caetanos sopran gehauchten Lieder ei-
ne Konstante im Repertoire jedes Welt-
musikliebhabers. Doch Velosos dama-
lige Soundrebellion war der Versuch,
die strengen Raster der ethnischen und
folkloristischen Musik zu sprengen und
auf die Popmusik der damaligen Zeit
zu reagieren: Die Beatles hatten ihre
psychedelische Phase eingeläutet, Ji-
mi Hendrix' verzerrte Gitarre und sein
Wah-Wah-Pedal begeisterten auch die
Jugend Brasiliens. Während sich die
traditionelle Linke an den Formen der
einheimischen populären Musik fest-
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