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Hamlet aus Rio beim Festival Brasil em Cena: Rosenkranz und Guldenstern als Comicfiguren
DIE WELT WIRD BRASILIANISCH
Mit dem Copa da Cultura startet das fünfgrößte Land der Erde zur Fußball-WM eine Kulturoffensive.
Die Festivals in Transit und Brasil em Cena geben Einblick in eine vitale Tanz- und Theaterszene
TEXT: FRIEDHELM TEICKE
Schon gehört? Wir werden alle Brasilianer. Das
hat nichts damit zu tun, dass derzeit in Deutsch-
lands Boutiquen und Discountern mehr Brasil-
Shirts über den Ladentisch gehen als deutsche
WM-Trikots. ., Brasilianisierung" nennt der Sozio-
loge Ulrich Beck die auf Europa übergreifende,
völlige Zerstörung aller sozialen, ökonomischen
und ökologischen Systeme. Ein Untergang à la
carte" sei das. Na, man muss das nicht so pes-
simistisch sehen.
Explizit br
it brasilianisch ist nam
lich auch eine Kulturtechnik, die Anthro-
pophagia heißt und zuversichtlich stimmt.
Denn die Brasilianer haben, seit ihre Urein-
wohner den ersten europäischen Missionar ver-
speist haben, ihren ganz eigenen modernen
Vannibalismus entwickelt urz gesagt dar-
auf hinausläuft, sich den „heiligen Feind" kur
zerhand einzuverleiben. Ein
Ein Aneignungs- als
Umdeutungsprozess zur Gewinnung eigener
Identität: Man nascht, was einem schmeckt vom
Buffet fremder Kulturen, Einflüssen und Öko-
nomien, vermischt sie mit den eigenen Tradi
tionen und lässt aus dieser Bouillon etwas Neu-
es, Unerhortes entstehen. Die Herausforde-
rung", sagte Brasiliens kulturminister, Popstar
7611 2006
und Musiklegende Gilberto Gil, kürzlich in ei-
nem „Tagesspiegel"-Interview, „besteht darin,
dass man Gleichheit und Differenz zusammen-
denkt. Meine Maxime ist: Bekämpfe die Unter-
schiede, wenn sie die Gleichheit bedrohen. Und
bekämpfe die Gleichheit, wenn sie das Anders-
sein, die Unterschiedlichkeit bedroht.“
Brasilien, na klar, da weiß doch jeder irgendwie
Bescheid. Da scheint immer die Sonne, alle
feiern ständig Karneval und tanzen mit Mulat-
tinnen in sündig knappen Tangas Samba. Ein
Paradies, wenn nur die kriminalität nicht wäre,
Elend
das
der Favelas und der Straßenkinder.
Brasilien - ein Land, das ebenso anziehend wie
abstoßend zu sein scheint.
Kultureller Kannibalismus
Es ist an der Zeit, die Klischees in der Welt zu-
recht zu rücken. Meint die brasilianische Re-
gierung unter Luiz Inácio Lula da Silva und
seinem Kulturminister Gilberto Gil. Denn auf fel-
ner Fläche, die größer ist als Europa (Deutsch-
land passt gut 24 Mal hinein), hat das Tropen-
land tatsächlich mehr zu bieten als Kriminalität,
Korruption und Karneval. Deshalb gibt Brasilien
.
gerade eine Menge Geld aus und spendiert
Deutschland das Kulturprogramm Copa da Cul-
tura. Im Vor- und Umfeld der
Fußball-WM zeigt
das größte Land Südamerikas, dass es kulturell
nicht nur Samba auf der Pfanne hat.
Da ist es auch ganz nützlich, dass Brasilien als
Kulturminister keinen Politiker sondern einen
Künstler hat, der sich politisch begreift. Und
dessen Vita als Mitbegründer der polemischen
Kulturbewegung der Tropicalia das schönste
für diesen so brasilianischen Prozess
der Aneignung, Umdeutung und Erneuerung ist.
Zur Eröffnung des Festival in Transit im Haus
der Kulturen der Welt, das in seiner fünften Aus-
gabe den Schwerpunkt auf das Tropenland legt,
hält Gilberto Gil sich nicht lange mit irgendei-
ner Rede auf, sondern gibt Anschauungsunter-
richt: ein Konzert. Er hat sogar extra einen Song
für Berlin und die Fußball-WM komponiert:
„Balé de Berlim (Anzuhören auf Gils Home-
page www.gilbertogil.com.br/berlim).
Neben einer Ausstellung zur Tropicalia, einer
vom feinsten besetzten Konzertreihe zur Musica
Popular Brasileira im Juni und Juli (siehe Seite
78) zeigt das Festival In Transit in seinem von