22.05.2006 Berliner Zeitung
Copa da Cultura - Brasiliens Kultur-WM
Die Anfänge: Gilberto
Passos Gil Moreira wurde
am 26. Juni 1942 in Sal-
vador de Bahia geboren.
Wegen seines revolutio-
nären und sozialkriti-
schen Stils wurde er ver.
haftet und flüchtete vor
der Militärdiktatur ins Exil
nach Großbritannien.
Als Politiker gibt Gil Konzerte, um sein spärliches
Ministergehalt aufzubessern, wie er sagt.
Copa da Cultura:
kommt zur Eröffnung der
brasilianischen Kultur-WM
nach Berlin. Die Copa
dauert vom 25. Mai bis
REUTERS/CAETANO BARREIRA. 9. Juli und gipfelt im Auf-
tritt von Superstar Danie-
la Mercury am 8. Juli.
durch gewinnen. Das ist in der ma-
teriellen Welt anders: Wenn man
zehn Reais verliert, hat man zehn
Reais weniger in der Tasche. Im
emotionalen Leben - und dazu ge-
hört der Fußball zweifellos - ist das
anders. Es gibt Niederlagen von
Teams, die großartig gespielt ha-
ben, an die man sich sein ganzes
Leben erinnern wird. Darum kann
auch eine Niederlage bei der WM
ein emotionaler Gewinn sein.
Die Seleção hat schon brillant ge-
spielt, wie bei der WM 1982, und
dennoch verloren. Dagegen ist die
Qualität der Spiele in der brasilia-
nischen Liga ziemlich schlecht.
/ Sport S. 18
Das sehe ich nicht so. Zudem
muss man berücksichtigen, dass
die Meisterschaft mit 20 Mann-
schaften sehr lang ist; da kann es
vorkommen, dass ein Spiel lang.
weilig ist. Brasilien ein riesiges
Land, und die Bandbreite der Fuß-
ballspiele ist groß. Bis heute gibt es
Spiele mit fast schon mythischer
Dimension, zum Beispiel die Stadt-
duelle zwischen Rio de Janeiro und
São Paulo. Und um mich glücklich
zu machen, reicht es ohnehin
schon aus, wenn ich einen Ball und
22 Spieler auf dem Platz sehe.
Immerhin sagen auch viele Ihrer
Landsleute, dass die Situation des
Fußballs in Brasilien schwierig ist.
Der Star: Gilberto Gil war
schon in den 1970er-Jah-
ren extrem erfolgreich.
Nach dem Ende der Mili-
tärdiktatur engagierte er
sich auch politisch. 2003
machte ihn Präsident
Lula zum Kulturminister.
So verdienen viele der 20 000 Profi-
spieler schlecht - fast die Hälfte von
ihnen umgerechnet weniger als 100
Euro monatlich-, während diejeni-
gen, die in Europa spielen, häufig
Multimillionäre sind.
Es ist nicht traurig, es ist die
Wirklichkeit. Und die, die das ver-
dienen, freuen sich sehr darüber,
für sie ist es nicht wenig. kön-
nen ihre Familien unterstützen,
ihre Kinder und Mütter. Es reicht
zumindest für das Notwendigste.
ich glaube auch nicht, dass
un-
bedingt traurig sein muss, arm zu
sein oder umgekehrt: dass die Rei-
chen in jedem Fall glücklicher sind
Aber ist es doch unstrittig, dass es in
Brasilien eine große soziale Kluft
gibt. Sie
selbst haben einmal ein
Lied für einen Fußballer geschrie
ben, der in den 1970er-Jahren als
Rebell galt.
... Sie meinen Afonsinho? Für
mich war er kein Rebell, im Gegen-
teil: er war ein einfacher, ruhiger
und sanfter Spieler, der einfach die
Idee hatte, in dem damals gelten-
den System für sein Recht zu kämp-
fen. Er wollte sein eigener Herr sein
und Verfügung über seinen Spieler-
pass erhalten, der seinerzeit noch
im Besitz der Vereine war. Am Ende
war Afonsinho auch erfolgreich,
und er wurde damit zum ersten
3/3
Fußballer Brasiliens, der einen frei-
Spielerpass erhielt. Afonsinho
war ein Mensch, der für einen Fuß-
baller ein vielleicht recht unge-
wöhnliches Leben führte. Er ging
manchmal nachts aus und nahm
am kulturellen Leben teil. Er wollte
lediglich ein normaler Mensch sein
und keine Maschine im Besitz ei-
nes Vereins. Für einige mag er des-
halb Rebell gewesen sein, für mich
nicht. Ich mochte ihn, weil er
Selbstachtung hatte.
Apropos Lieblingsspieler. Wer dürfte
nicht fehlen, wenn Sie Brasiliens
beste Mannschaft aller Zeiten auf-
stellen würden?
Meine Idealmannschaft? Das ist
eine schwierige Frage. Ich würde
jedenfalls mit einer 2-3-5-Aufstel-
lung spielen, mit nur zwei Verteidi-
gern und fünf Stürmern, so wie es
damals üblich war, als ich noch
jung war. Es würden mindestens
vier Spieler aus Bahia dabei sein,
die heute so gut wie keiner mehr
kennt: Im Tor würde ich Lessa auf-
stellen und im rechten Mittelfeld
Flávio. Und im Sturm würden Mari-
to und Biriba stehen, die 1959 mit
Bahia brasilianischer Meister ge-
worden sind. Das ist natürlich eine
völlig verrückte Aufstellung, die
nichts mit Taktik zu tun hat. Aber es
sind die Spieler, die mein Herz be-
wegt haben, weil ich sie auf dem
Platz selbst habe spielen sehen.
Und welche Spieler, die keine Brasi-
lianer sind, würden Sie gerne für Ihr
Land spielen sehen?
Von den heute aktiven hätte ich
gerne zwei Spieler vom FC Barcelo-
na dabei: den Kameruner Samuel
Eto'o und Lionel Messi, diesen jun-
gen Argentinier. Und natürlich
müsste Franz Beckenbauer dabei
sein, ich bin ganz verrückt nach Be-
ckenbauer. Er war ein Meister und
gehört für mich zur Kategorie der
außergewöhnlichen Spieler. Und
dazu war er ein sehr schöner Mann.
Darum nenne ich ihn auch in mei-
nem neuen Lied: „Beckenbauer-
Bauer, Barbosa, Bobo, Bobby
Charlton, Puskas, Bellini, Eto'o."
Ich würde aber auch den Italiener
Paolo Maldini sofort in eine brasi-
lianische Mannschaft aufnehmen;
er ist eine modernere Version von
Beckenbauer. Was beide verbindet,
Beckenbauer und Maldini, ist ein
Minimalismus, der ganz ohne Ex-
hibitionismus auskommt. Für
mich verkörpern diese beiden
Spieler die perfekte Verbindung
von Eleganz und Effizienz.
Das Gespräch führte Ole Schulz.