Foto: Harald Dayot
Die Stimme Brasiliens
Gilberto Gil
Andere Länder haben einen Kul-
turminister, Brasilien hat einen
Minister, der selbst Kultur macht.
Schon kurz nach seinem Amtsan-
tritt 2003 als Kulturminister im Ka-
binett von Lula da Silva hatte Gil-
berto Gil die Idee einer Copa da
Cultura, einer Weltmeisterschaft
der Kultur, mit Spielorten in Berlin
parallel zur FIFA-WM und ein Jahr
später in Brasilien. Den Auftakt
der Copa da Cultura im
Haus der
Kulturen der Welt im neuen
Berlin
ner Regierungsviertel übernahm
der Mann mit
den Rastalöckchen
gleich selbst. Kaum hatte der
Hausherr Bernd Scherer seiner
Hoffnung Ausdruck verliehen, das
WM-Endspiel möge Brasilien und
Deutschland als Gegner sehen
und das Ergebnis ein Unentschie-
den sein, enterte die Stimme Bra-
siliens“ die Bühne - und schon
stand es 1:0. Mit seinem Quintett
eroberte Gilberto Gil das Publikum
im Sturm. Zwei, drei Songs, und
es hielt kaum mehr jemanden auf
den Sesseln. „Einer meiner
großen Träume ist", hatte der
Mann, der in seinem Heimatland
schon seit den 1970er Jahren Kult
ist, der ZEIT im vergangenen Jahr
anvertraut,,,dass in Brasilien eine
gemeinsame Identität entsteht aus
den vielfältigen Strömungen, Reli-
gionen, Bevölkerungsgruppen und
Kulturen, die in unserem Land
leben. Ich wünsche mir eine Iden-
tität, die Verschiedenheit als Wert
anerkennt." Ganz im Sinne dieser
Programmatik und im Geiste des
von ihm mit erfundenen Tropica-
lismo, jener spannungsgeladenen
Verbindung aus Bossa Nova und
40
Rock- und Popmusik, gestaltete
der Weggefährte von Caetano
Veloso und bekennende Bob-Mar-
ley-Fan sein aktuelles Programm
„Electracústico". Bossa-Nova-Bal-
laden treffen auf Reggae-Feeling,
afrikanische Rhythmen kreuzen
weiße Popmusik, akustische
Gitarre und ihre elektrisch ver-
stärkte Schwester, elektronische
Keyboards und Akkordeon, Surdo
(die große Sambatrommel) und
Drums, Berimbau, E-Bass und
Banjo - alles hat Platz und
Stimme in diesem furiosen Quin-
tett. Gilberto Gil beschwört die
afrikanischen Wurzeln brasiliani-
scher Musik, zelebriert eine
Samba-Variante der John-Lennon-
Hymne. Imagine", erinnert in kur-
zen englischsprachigen State-
ments an die Geschichte der
Sklaverei und den Traum von einer
friedlichen, freundlichen Welt,
lässt Bob Marley auferstehen und
singt Songs aus der Zeit der Mili-
tärdiktatur seines Landes, die ihn
ins Exil nach London verbannte
und die folgt man den Reaktio-
nen des brasilianischen Teils des
Publikums, Volkslieder geworden
sind, die mitgesungen und
getanzt werden. Dass aus dem
Auftritt Gilberto Gils keine Ein-
Mann-Show geworden ist, hat mit
der Qualität seiner Band zu tun.
Die Perkussionisten Gustavo Leite
und Marcos Costa, Cicero Assis
(Akkordeon und Keyboards) sowie
Sergio Coelho (akustische Gitarre)
sind mehr als nur Begleiter eines
charismatischen Sangers und
Gitarristen. Souverän beherrschen
sie auch traditionelle Instrumente
wie Surdo und Berimbau und
erzeugen Momente von höchster
Dichte und Authentizität. Als die
Nacht hereinbricht und das Kon
zert zu Ende ist, strahit die ehr-
würdige Kongresshalle, in dem
das Haus der Kulturen der Welt
seine Heimat gefunden hat, in
Gelb, Grün und Blau.
Noch bis zum Ende der Fußball-
Sound Expansion
Jazz im Europazug
Die Stärke Europas ist seine
Vielfalt an Sprachen, Kulturen
und Traditionen. Wie können
sich die europäischen Länder
einander annähern, ohne diese
Vielfalt zu verlieren? Darauf
wollte der Europazug eine Ant-
wort geben, der vom 24. April
bis 1. Mai durch sieben Länder
rollte. Anlass für die Idee des
Europazugs war die EU-Oster-
weiterung vor zwei Jahren. Mit
im Zug reisten 24 verschiedene
Projekte aus den Bereichen
Kunst, Film, Theater, Foto, Lite-
ratur und Musik zum Thema
Europa. Darunter war auch die
Band Sound Expansion - ein
Jazzprojekt zur EU-Erweite-
rung
weltmeisterschaft zeigt sich Brasi-
lien im Herzen Berlins als vitale
Kulturnation mit den Schwerpunk-
ten Tanz und Musik, u. a. mit der
Sangerin Bebel Gilberto und den
Jazzfans bestens bekanntem
Berimbau-Spezialisten Nana Vas-
concelos (07.07.06).
Heribert Ickerott
Am 24. April rollte der Europazug
und mit ihm der Pianist Philipp
Cieslewicz als erstes Mitglied der
Band Sound Expansion aus dem
Berliner Bahnhof Friedrichstraße,
In jeder der folgenden Stationen
stieg ein
Musiker aus dem jeweili-
gen
Land zu und begleitete die
bereits mitfahrenden Ensemble-
mitglieder auf ihrer Reise. Die tāg-
lich wachsende Band probte im
vorletzten Waggon, der sogar ein
Klavier an Bord hatte.
Bis zum 1. Mai hielt der Europa-
zug in den Städten Ceské Budejo-
vice, Linz, Maribor, Pécs, Košice,
Kraków, Görlitz/Zgorzelec und
Berlin. Auch die Bandmitglieder
kamen aus verschiedenen Natio-
nen und Kulturen:
Deutschland,
Tschechien, Österreich, Slowe-
nien und Polen. Geprobt wurde
tagsüber im Zug. Am Abend gab
es mit der jeweils erweiterten
Band einen Auftritt. So setzte sich
das Spiel fort bis zum Abschluss-
konzert als Sextett in Berlin.
Die Spieler waren gezwungen,
innerhalb kürzester Zeit einerseits
das Besondere ihres eigenen Stils
herauszustreichen, andererseits
ihre Stimme in den Gesamtklang
einzufügen. Der Prager Gitarrist
Jan Luprich beschreibt diesen
Prozess: „Eigentlich klappte es
gut. Wir probieren ein bisschen
herum, spielen Songs an, die wir
kennen. Daraus entsteht etwas
oder auch nicht. So finden wir
zusammen, so entstehen die
Stücke für das Konzert am
Abend". Der Versuch, einen
gemeinsamen Sound zu schaffen,
der die musikalischen und kultu-
rellen Hintergründe der einzelnen
Mitglieder einschließt, könnte im
Kleinen ein kreatives Vorbild für
den gesamteuropäischen Eini-
gungsprozess sein.
Sound Expansion machte deut-
lich, was sich auch im großen
Maßstab zwischen den Nationen
Europas zeigt: Um kulturelle Bar-
rieren und Verständigungspro-
bleme zu beseitigen, ist zuerst ein
gegenseitiges Kennenlernen
vonnöten. Das möchte Tobias
Hipp, Projektleiter des Europazu-
ges, durch gemeinsame Aktivita
ten erreichen: Wir brauchen mehr
grenzüberschreitende Kontakte.
Deshalb haben wir mit dem Euro-
pazug auf allen Stationen den
Dialog mit den ganz normalen
Menschen auf der Straße
gesucht". Mit im Zug reiste auch
Fritjof von Nordenskjold,
Geschäftsführer der Deutschen
Gesellschaft für Auswärtige Poli-
tik. Er zeigte sich begeistert von
dem Enthusiasmus der über 70
Akteure aus 13 Ländern. Für die
Zukunft Europas muss man keine
Sorge tragen", war er sich sicher.
Der Europazug ist ein Projekt des
1996 gegründeten MitOst e.V., der
sich als Förderer des Kulturaus-
tauschs in Mittel-, Ost- und
Südosteuropa versteht. Die Deut-
sche Gesellschaft für Auswärtige
Politik und die Edith Stein Gesell-
schaft Wroclaw beteiligten sich
ebenfalls an der Organisation. Lei-
terin des anspruchsvollen Jazz-
projekts war Maike Theuerkauf
Sie wāhite die Bandmitglieder
aus, beschaffte Finanzen, Über-
nachtungsmöglichkeiten und
Instrumente. „Junge kreative Men-
schen in Europa vernetzen sich
und gestalten ein Projekt für
andere junge Menschen"
beschreibt sie das Motto von
Sound Expansion
Ihren Abschluss fand die Reise
mit einer Europakonferenz in Ber-
lin am 1. Mai, dem zweiten Jah-
restag der EU-Osterweiterung. Als
Veranstaltungsort hatte man den
symbolträchtigen Tränenpalast
gewählt, der als ehemaliger
Grenzübergang zwischen Ost-
und Westberlin für die Überwin-
dung der Teilung Europas steht.
Zum Abschluss der Konferenz
wurde die Europäische Deklara-
tion" verlesen - eine Vision zur
Zukunft der EU, die die Teilneh-
mer während der Fahrt erarbeitet
hatten. Sie sollte zur Pflichtlektüre
der Politiker werden.
Antje Roßler