Stuttgarter Zeitung
Im Zeichen
der Currywurst
Wie sich Berlin auf das Turnier vorbereitet
Wussten Sie, dass es in Deutsch-
land 1500 Wurstsorten gibt?
Nein? Dann haben Sie offenbar
Ihr Schulungshandbuch als Gast-
geber für die Weltmeisterschaft
noch nicht ausreichend durchge-
arbeitet. Dort stehen nämlich sol-
che und andere harte Fakten.
Wenn irgendjemand Spezia-
list in Sachen Wurst ist, dann
dürften das wohl die Berliner
sein. Zugegeben, keiner versteht
einen, wenn man ein Saiten
würschtle zum Kartoffelsalat
wünscht. (Wobei ein barbari-
scher Kollege gerade einwirft,
ein Saitenwürschtle sei nichts
anderes als eine ordinäre Brüh-
wurst.) Immerhin ist in Berlin
die Currywurst erfunden wor-
den das
spricht für die
prinzipielle Auf-
geschlossenheit
gegenüber dem
Neuen.
Denn
mit der Curry- von
Bauer
wurst ist es im Katja
Prinzip
auch
nicht anders als
mit dem Fugu
im Sushi-Laden
oder mit dem Kokain an der
Kurfürstenstraße: Man weiß nie,
was noch so drin ist.
Also, mit Wurst kennen sich
die Berliner prinzipiell aus. Weil
überall, wo auch nur der Hauch
einer Chance besteht, dass ir-
gendein Ereignis stattfinden
könnte, zuallererst immer eine
Wurstbude aufgebaut wird. Und
auch Fußballhasser werden zuge-
ben müssen, dass die WM nun
echt ein Ereignis ist.
Bisher hat der Hauptstadt
noch niemand gezählt, wie viele
Wurstbuden in den nächsten
Wochen aufgestellt werden.
Sonst ist aber alles gezählt und
vermessen worden. Zwölf Fuß-
ballfelder groß wird zum Bei-
spiel die größte offizielle Fan-
meile der Republik auf der
Straße des 17. Juni sein. Und 32
Meter im Durchmesser hat der
größte Fußball der Republik
Weil nämlich ein Marketingstra-
tege eines Telekommunikations-
S. B 18 1/2
konzerns die Kugel des Fernseh-
turms als weiß-rosafarbenes Le-
der verkleidet hat. Wir warten
jetzt auf ein kugelrundes Handy,
mit dem man dribbeln und tele-
fonieren kann. Das wird der Fan
brauchen, weil die Fanmeile
nämlich in Wirklichkeit so lang
ist, dass man sich nicht mal
eben auf Zuruf verabreden kann.
Sie zieht sich vom Regierungs-
viertel bis über den Potsdamer
Platz hinaus zum Kulturforum.
Und der Fußball wird in unser
aller Leben so riesengroß sein,
dass man sich zum Beispiel ne-
ben einer gigantischen Stollen-
schuhskulptur vor dem Kanzler-
amt oder vor dem Fußballglobus
am Brandenburger Tor vorkom-
men wird wie
ein Bolzplatzgul-
liver auf Entde-
ckungsreise.
Auf dem Ra-
sen direkt vor
dem Reichstag
kann man einen
weiteren Super-
lativ bewun-
dern: Dort fin-
det das teuerste
Sportartikelidentifikationspro-
jekt der Geschichte statt. Der
Herrenausstatter der deutschen
Elf hat ein Olympiastadion nach-
gebaut, in das 10 000 Leute und
auf jeden Fall drei dicke Streifen
passen. Dorthin werden alle
Spiele übertragen. Das gilt - ab-
gesehen von vielen Biergärten,
Vereinsgaststätten, Stadien
auch noch für andere promi-
nente Plätze: Im Sony-Center, in
der Waldbühne und an der
Neuen Nationalgalerie ist Kicken
gucken angesagt. Glücklicher-
weise ist es bei dieser WM zum
ersten Mal dass man sich als
Fußi-Freund outen kann, ohne
gleich als Kulturmuffel zu gel-
ten. Eher umgekehrt: unter dem
Deckmäntelchen der kulturellen
Beflissenheit kann man sich un-
geniert dem Fußball widmen.
Alle möglichen Museen beschäf-
tigen sich mit Fußball, im Haus
der Kulturen der Welt präsen-
tiert sich Brasilien, in einer
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