Der Tagesspiegel
S. 11
STADTMENSCHEN
Stimme Brasiliens
Gilberto Gil eröffnet das Festival „Copa da Cultura“
Das soll den Brasilianern erst mal einer
nachmachen. Bevor Ronaldinho, Ro-
naldo und Co. anreisen, präsentieren
sie ein Festival mit rundem Programm,
die ,,Copa da Cultura". Die Eröffnung
bot gleich die reine Glückseligkeit.
Denn die Stimme Brasiliens" hatte
sich angekündigt: Kulturminister Gil-
berto Gil absolvierte im Haus der Kultu-
ren der Welt eins seiner raren Konzerte
- sein Auftritt war ein Geschenk an die
Berliner. Die dankten es dem charisma-
tischen Sänger und Songwriter, der im
Juni seinen 64. Geburtstag feiert, auf
ihre Weise: Sie öffneten ihre Herzen
und lockerten ihre Hüften.
Wenn Gil spricht, ist es ganz still. Die
Tropicalismo-Legende hat nicht nur in
den sechziger Jahren die
brasilianische
Musik revolutioniert, sie mit Einflüssen
von Rock und Jazz gekreuzt. Gil hat auch
intensiv seine afro-brasilianischen Wur-
zeln erforscht - in Songs, aus denen eine
große Spiritualität spricht. Auch in Ber-
lin beschwört er die alten Mythen, er erin-
nert an die schwarze Di-
aspora und an das Lei-
den der Sklaverei, etwa
in ,,La Lumen de Goer-
ge", einer schmerz-
haft-schönen Ballade.
Bis sich wieder die unbe-
schwerten Trommel-
rhythmen vordrängen.
Fröhlich- traurige Tro-
pen: Den Schmerz weg-
zutanzen, dass verstehen die Brasilianer.
Bald ist Gil von ausgelassenen Landsleu-
ten umringt, die Stimmung im Saal kippt
zwischendurch ins Karnevalistische.
Gilberto Gil
Großer Jubel bricht dann los, als Gil
mit federnden Schritten und wehenden
Rastazöpfen hineingetänzelt kommt und
die Gitarrero-Pose markiert: Für sein ak-
tuelles Programm ,,Electracústico" hat er
sich eine ungewöhnliche Besetzung ge-
holt: begleitet von Sorgio Coelho (Gi-
tarre), Cicero Assis (Akkordeon und Key-
board) sowie Marcos Costa und Gustavo
Leite (Percussions) präsentiert er rockige
Interpretationen seiner Evergreens. Sou-
verän ließen Gil und seine Band zudem
eine bewegende Version von John Len-
nons ,,Imagine" sowie mehrere Bob-Mar-
ley-Hymnen einfließen. Entspannter Bra-
sil-Reggae wechselt mit lebhaftem Tro-
pen-Funk, Samba zum Mitsingen und me-
lancholischen Balladen.
Doch Gil ist ein Mann von moralischer
Autorität - und ein Musiker mit einer Bot-
schaft. Selbst wenn er ein überschwängli-
ches Tänzchen hinlegt, ist dies ein politi-
sches Statement. Deshalb wird das Kon-
zert nicht zur Gute-Laune-Feier. Als die
Nacht hereinbricht, erstrahlt die Kon-
gresshalle in Gelb, Grün und blau. Berlin
ist an diesem Abend ein bisschen brasilia-
nischer geworden. SANDRA LUZINA