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Documents from Gilberto Gil's Private Archive

Instituto Gilberto Gil

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Brazil

  • Title: Documents from Gilberto Gil's Private Archive
  • Transcript:
    11.05.2006 Die Zeit Politik S. 8 Ein Land wird zum Kind Deutschland vor der Weltmeisterschaft: Wir machen Urlaub von uns selbst VON HANNS-BRUNO KAMMERTONS UND MORITZ MÜLLER-WIRTH E s ist passiert. Das Thema Fußballwelt- meisterschaft hat es auf die Seite eins der ZEIT geschafft. Zugegeben, es war knapp. Auch bei uns gibt es die Stimmen jener, die das große Ereignis jetzt schon verloren geben. Menschen, die, wie mit einer zentnerschweren Last beladen, gramgebeugt über die Flure schleichen. Bemitleidenswert irgendwie . Und auch wenig sou- verän. Man verlässt keine Party, die gerade begon- nen hat. Wenn die Zeichen nicht trügen, dann erlebt Deutschland in diesen Tagen, an denen nach dem langen Winter so übergangslos der Sommer ausge- brochen ist, auch sonst eine wundersame Wand- lung. Zum Beispiel Hamburg, wo seit Jahrhunder- ten der rote Hamburger Klinker das Stadtbild be- herrscht. Plötzlich erstrahlen so >>Blue so genannte Goalsu auf den Dächern, gekrümmte mit Neonröhren kalt-blauem Licht. Bei Redaktionsschluss wa- ren es bereits mehr als hundert dieser Gebilde. Zu einer anderen Zeit hätte dieser Umstand so fort die hanseatische Bauaufsicht alarmiert. Aber jetzt? Freude, nichts als Freude über diese magi- schen Vorboten der großen Fußballspiele, die am 9. Juni beginnen. Vier Wochen. Schöne Wochen, ein- ē zigartige Wochen, Begeisterung, Tränen, passione in Deutschland! Und jeder kann mitmachen. Einige wollen aber nicht – ewige Miesepeter, Dauernöler, Bürger, die noch nie Panini-Fußball- bildchen gesammelt haben. Zu viel Kommerz, zu viel Bundeswehr, zu viel Fifa, zu wenig Karten: so lauten die gebräuchlichs- ten Argumente der Lamentierer. Am Eigentlichen geht diese Kritik vorbei. Zu wenig Karten? Wir sa- gen nur: Ronaldinho und, mit Verlaub, auch Leh- mann. Beide sind mal wieder in Deutschland, vor unserer Haustür. Seit Monaten gibt es auf dem freien Markt keine Tickets mehr, um sie leibhaftig zu sehen. Ausverkauft! Kann sich Liebe auf schö- nere Weise offenbaren? Seit Wochen gibt es eine neue, stabile Währung im Land neben dem un- geliebten Euro: Eintrittskarten für die großen Spiele. Beispielsweise wie aus München zu hören ist als Honorar für tieflotende Autoren, die mit ihren Artikeln rechtzeitig vor dem Anpfiff fertig geworden sind. Zu viel Staatsgewalt? Ein Nebenschauplatz auch dies. Türsteher braucht jede gute Party. Eine große braucht viele. Zu viel Fifa? Will man sich von einem einzelnen Herrn aus Zürich, Josef Blatter mit Namen, wirk- lich die Laune verderben lassen? Auch 1974 wehten lichten Haarkränze der Fußballfunktionäre beim Endspiel unter dem Zeltdach des Münchner Olympiastadions. Vorbei und vergessen. Nicht aber Gerd Müllers Drehung und der Flachschuss von halb rechts. Zu viel Kommerz? Das Argument stimmt mitt- lerweile immer, beim Papstbesuch auf dem Kir- chentag, im heimischen Museum oder bei den Ber- liner Philharmonikern. Dennoch: die Miesepeter wollen nicht schwei- gen. Könnte es sein, dass die Deutschen womöglich ein geerbtes, generelles Problem mit Spaß und gu- ter Laune haben? 1/3 Pressespiegel Samba auf Bismarckstraßen und Von-Moltke-Plätzen Da muss schon ein diktatorisches Weltreich zusam- menbrechen und die Berliner Mauer gleich mit, da- mit sich das Volk ein paar ausgelassene Tage gönnt. Im sich anschließend einstellenden Kater findet man zwischen Glücksburg und Garmisch dann schnell wieder zu einer getragenen Grundstimmung zurück. Das kann so nicht weitergehen. Jetzt soll ausgerechnet eine mittelmäßige deut- sche Fußballnationalmannschaft das Unmögliche, die Wende schaffen? Wenn nicht alles täuscht, gibt es diesmal selbst für die schwer stimulierbaren Deutschen kein Entkommen. Zehntausende swin- gende Animateure aus Costa Rica, der Elfenbein- küste, aus Togo, Italien und Ecuador, aus Argenti- nien, Schweden, Spanien und Brasilien haben Deutschland gebucht. Auch sie sind für vier Wochen Deutschland. Männer und Frauen, die ihre knappen Kostüme und ihre laute Musik mitbringen, um auf deutschen Bismarckstraßen und Von-Moltke-Plätzen zu tan- zen. Kann sein, dass man ihr Zielgebiet nicht wie- dererkennt, wenn sie wieder weg sind - verwüster von guter Laune. Die spannende Frage lautet: Ist Deutschland be- reit für die große Party? Die Bedenkenträger jeden- falls verlieren mit jedem Tag an Einfluss. Thre düs- teren Vorhersagen mag kaum noch jemand hören. Erwartungsfroh, fast dankbar und dabei seltsam un- aufgeregt scheint das Land dem munteren Treiben entgegenzusehen.
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