17.1.2006 Der Tagesspiegel
Fahrradreifen
statt
Karneval
Verstörende Fotokunst
aus Brasilien im NBK
Vermauerte Hauseingänge in tristem
Schwarz-Weiß. Die Amtseinführung von
Präsident Lula 2003 in Brasilia - auch in
Schwarz-Weiß. Ein heruntergekomme-
ner Boxclub in Rios Szeneviertel Lapa.
Ein Tunnel, Dreck und Elektroleitungen.
Eine Häuserwand, graffitibeschmiert.
Bonjour Tristesse, heißt es in Brasi-
lien. Bunte Karnevalsbilder, der blaue
Himmel über Brasilia, das prächtige Erbe
von Barock und Kolonialismus? Fehlan-
zeige. Die junge Fotoszene, die der Neue
Berliner Kunstverein (NBK) in seiner
jährlichen Landesschau vorstellt, sucht
den Verfall, nicht das Pittoresk-Folkloris-
tische. „Selbst wenn es darum geht, Fuß-
ball zu fotografieren, konzentrieren sie
sich nicht so sehr auf das Spiel, sondern
fotografieren eher die Löcher im Rasen",
beklagt Alfons Hug. Er ist der Leiter des
Goethe-Instituts von Rio und Kurator
der beiden letzten Kunst-Biennalen von
Sao Paulo sowie des Brasilien-Pavillons
auf der letztjährigen Biennale von Vene-
dig. Gemeinsam mit dem
brasilianischen
Kurator Fernando Cocchiarale hat er
auch die Auswahl für die NBK-Ausstel-
lung besorgt.
Fußball, das Thema des Jahres, kommt
als Motiv im NBK überhaupt nicht vor.
Und das, obwohl Brasilien mit der Copa
da Cultura ein umfangreiches Kulturpro-
gramm zur WM zusammengestellt hat.
Es wird im Sommer auch im Berliner
Haus der Kulturen der Welt gastieren. In
Rio selbst veranstaltet Hug demnächst
eine Ausstellung zum Thema „Kunst und
Fußball“, angelehnt an die im Gro-
pius-Bau gerade beendeten Rundleder-
welten“. Doch die Sorge, die Brasi-
lien-Klischees zu bedienen, ist in der loka-
len Fotoszene offenbar groß. Nicht von
ungefähr stammt das einzige Ur-
wald-Bild von einem Fotografen, Caio
Reisewitz, der seine Ausbildung an der
Düsseldorfer Kunstakademie erhielt.
12 Fotografen hat Hug ausgewählt, da-
runter Bekanntere wie den ehemaligen
Fotojournalisten Miguel Rio Branco oder
Rosangela Rennó, die mit ihren rot einge-
färbten Foto-Funden auch schon in Vene-
dig zu sehen Andere sind eher Neu-
entdeckungen, wie der bislang nur als
Maler bekannte Emmanuel Nassar, der
Hauswände und Fahrradreifen fotogra-
fiert, mit sicherem Blick für malerische
Farbeffekte.
Berlin Kultur
S. 25
Und doch sticht einer hervor: Caio Rei-
sewitz, Jahrgang 67, ist die große Entde-
ckung von Alfons Hug. Seine opulenten
Großformate von Rios Barockkirchen
und Bibliotheken, erkennbar in der Tradi-
tion Candida Höfers, waren Highlights
der Sao Paulo-Biennale und auch im Bra-
silianischen Pavillon in Venedig zu se-
hen. Für Berlin hat Hug andere Motive
gewählt: Naturfotografien, Urwald und
eine Str: windet wie ein leuch-
tender Fluss durch das Grün, im Hinter-
grund verschwimmen die Berge in
schönstem Sfumato. Die Großformate,
auch die Arbeit in Serien, hat Reisewitz
wohl in Düsseldorf gelernt.
Das eindrucksvollste Bild jedoch zeigt
Rufo, einen Hausmeister in Rio: eine mo-
numentale Figur, halb abgewandt nach
hinten blickend, realistisch und überhöht
zugleich, eher Beat Streuli als Düsseldor-
fer Schule. Auf Reisewitz wird man ach-
ten müssen. CHRISTINA TILMANN
Zeitgenössische Fotokunst aus Brasi-
lien, NBK, bis 26. Februar, Di bis Fr, 12 bis
18 Uhr, Sa und So 14 bis 18 Uhr, Katalog
(Edition Braus) 19 Euro.