22-4-45
Irgendwo in
Deutschland
Lieber Bo:
Es ist wieder Sonntag. Das weiß ich, weil ich Dir schreibe. Eigentlich merke ich es nur daran. Sonntag ist Korrespondenztag. Ich habe in der letzten Woche keine Post von Dir erhalten. Sowieso ist die Post spärlich geworden. Nun, vielleicht berappelt sie sich wieder.
Wir stehen alle unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse. Berlin kann jetzt jede Minute fallen. Die deutsche Armee ist auseinandergerissen. Das sind großartige Neuigkeiten, und wir jubeln darüber. Ein Dämpfer sind die Dinge, die Tag für Tag ans Licht kommen. Die Konzentrationslager werden entdeckt, und die Jungs kehren aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Bo, es ist unfassbar, was dort geschehen ist. Die Jungs sehen aus wie Geister, unterernährt, ausgemergelt, krank. Sie sind nach deutscher Art behandelt worden. Keine weitere Erklärung nötig. Ich hatte reichlich Gelegenheit, die Mentalität der Deutschen zu studieren, ihre Armee, ihre Zivilisten, ihre Frauen und Kinder. Ich habe sie gesehen, als ich ihr Gefangener war, ich habe sie gesehen, als sie unsere Gefangenen waren, ich sehe sie jetzt in allen Varianten. Mein Urteil ist ganz objektiv; mehr denn je bin ich davon überzeugt, dass die deutsche Nation verdorben ist, dass sie ein scheußliches Pack sind. Natürlich sind nicht alle Verbrecher, aber die Mehrheit von ihnen ist unter aller Würde. Ihre Haltung uns gegenüber ist eigentümlich. Kein Anstand, kein Stolz, sondern hündische Höflichkeit und Kriecherei vor dem Sieger. Du kannst niemandem vertrauen. Wir hatten wunderbare Fälle von Betrug und Heuchelei. Ich habe Dir schon von den Leuten erzählt, die plötzlich jüdische Vorfahren haben wollen, angeblich immer die Nazis verabscheut haben (obwohl sie von 1934-1945 Parteimitglied gewesen sind) und sich für Amerika begeistern (jetzt, wo wir gekommen sind). Bo, keiner von uns würde eine Träne vergießen, wenn Deutschland von der Landkarte getilgt würde. Dieser Staat, diese Nation hat ihr Existenzrecht verwirkt. Nun, genug davon. Der Anblick von Deutschland in Trümmern bewegt mich so sehr wie ein toter Hund, der im St. James River treibt. Hatte Post von Ernest Cramer, dem es gut geht. Vor ein paar Tagen las ich in unserer Armeezeitschrift »Yank« einen kleinen Artikel über Floh, den ich dem Brief beilege. Ebenso einen Cartoon, der mir sehr gefiel (bitte bewahre ihn für mich auf) und eine Verlängerung für das Inf. Journal. Kannst Du Dich darum kümmern? [[Und bitte leite den Brief an meine Verwandten in Brasilien weiter. Es ist zu kompliziert, ihn von hier aus zu schicken.]] Vergiss das!
Henry hat mir auch einen netten Brief geschrieben. Er ist jetzt bei einer neuen Truppe und fühlt sich da ziemlich wohl.
Ich warte nun auf die Befreiung Hollands, um nach meiner Familie zu suchen. Hoffentlich mit Erfolg. Je mehr ich von der ganzen Schweinerei sehe, desto besorgter und unsicherer werde ich. Die Nazis bringen die Leute bis zur letzten Minute um, haben ihre Gefängnisse voller Toter und Sterbender hinterlassen, die noch in den Stunden zuvor mit Maschinengewehren und Granaten getötet wurden –
Bo, für heute mache ich Schluss. Das Funkgerät kreischt in allen Sprachen. Ich muss noch viel
schreiben. Bitte schreib Du mir bald, ja? Hast Du Prinz gesehen? Ich habe ihm vor ein paar Tagen geschrieben, hoffe bald wieder Post von ihm zu bekommen.
Allerbeste Grüße,
Dein Töpper