Am Kazartepe, einem Kalksteinhügel südlich vom antiken Milet, befand sich in hellenistischer Zeit eine dichtbelegte Nekropole. In archaischer Zeit scheint dagegen hier nur ein Grab existiert zu haben, das jedoch von herausragender Größe und Bedeutung war. Ein langer Zugang (dromos) führte zu der in den Hügel gehauenen Grabkammer, die mit Steinsetzungen verschlossen war. Die ganze Anlage wurde durch eine Erdanschüttung geschützt. Oberhalb des Grabeinganges waren die Marmorbilder von zwei gelagerten Löwen aufgestellt, von denen einer vollständig erhalten ist. Vom zweiten Löwen fehlt die vordere Hälfte, er ist jedoch eine genaue, nur etwas weniger sorgfältig gearbeitete Kopie des anderen. Der besser erhaltene Löwe war von oben herab in den Dromos gestürzt, dabei wurde der vordere Teil beschädigt. Während die meisten frühgriechischen Löwenbilder vorderasiatischen Vorbildern folgen und das bedrohliche wilde Tier zeigen, gehören die beiden milesischen Löwen zu einer kleinen, zeitlich und räumlich begrenzten Gruppe, die sich an ägyptischen Vorbildern orientiert. Die Kenntnis der ägyptischen Löwenbilder ist durch die intensiven Beziehungen zwischen Unterägypten und den Griechen Ostioniens im 7. und 6. Jahrhunderts v. Chr. vermittelt worden. Die ostionischen Löwen ahmen die Vorbilder in der monumentalen Größe wie auch in Einzelheiten der plastischen Gestaltung nach. Der Löwe liegt auf seiner linken Seite und schiebt das linke hintere Bein unter den Körper, so dass die Unterseite der Tatze neben dem angewinkelten rechten Hinterlauf sichtbar wird. In diesem Motiv folgt er den ägyptischen Vorbildern. Während jedoch die ägyptischen Löwen in königlicher Würde den erhobenen Kopf dem Betrachter zuwenden und die Vorderpranken kreuzen, hat der milesische Löwe den Kopf nur ein wenig nach rechts gewandt und in träger Ruhe auf die ausgestreckten Vorderpranken gelegt. Nur seine Augen blicken wachsam. Die naturnahe Haltung könnten die Bildhauer in Ägypten an Löwen in Tiergehegen beobachtet haben. Aus dem Einfluss der ägyptischen Vorbilder sind auch viele formale Eigenarten zu erklären: die großflächige Darstellung des Körpers, dessen verhaltene Wendung zum Betrachter an dem sanften Schwung des Rückgrates ablesbar ist, die Darstellung von Knochen und Hautfalten am rechten Schenkel, die weiche Modellierung des Gesichtes und seine birnenförmige Gestalt. Der ostgriechische Bildhauer verrät sich in der unbewegten Schwere des Körpers, den wenigen, nur auf der Oberfläche aufgetragenen gliedernden Akzenten und der weichen Fülle und Detailfreude der Gestaltung. Der Löwe war das Wappentier von Milet. Zahlreiche in Milet und Didyma gefundene Marmorlöwen, teils in kolossalem Format, waren als Weihgaben in den Heiligtümern aufgestellt. Mit Sicherheit sind nur die beiden Löwen vom Kazartepe auf ein Grab zu beziehen. Sie waren Wächter des Grabes, deren Macht durch die Verdoppelung verstärkt wurde, und sie zeugten von der Bedeutung des Toten, dessen Grab sie beschützten.