Die auf einer kaum sichtbaren Bank thronende Muttergottes mit hoch aufgerichtetem, überlängtem Oberkörper lässt sich knapp unterhalb der Schultern in voller Höhe in der Art eines Schreins öffnen. Bei aufgeklappten Flügeln waren im Innern eine verloren gegangene plastische Darstellung – wohl ein Gnadenstuhl – sowie auf den Flügelinnenseiten eine erhaltene gemalte Verkündigung zu sehen. Ihr rechter Arm ist angewinkelt, in der abwärts geknickten Hand befindet sich das untere Stück des ehemals angedübelten Zepters. Mit der Linken umfasst Maria die Hüfte des auf ihrem Oberschenkel stehenden Kindes.
Umfangreich sind die theologischen Voraussetzungen der Schreinmadonnen oder „Vierges ouvrantes“, deren frühestes erhaltenes Beispiel aus der Zeit um 1200 stammt und die bis ins späte Mittelalter im Abendland verbreitet waren. Die Vorstellung von Maria als Gehäuse bzw. Gefäß war im hohen Mittelalter geläufig. Auch der Umstand, dass die überwiegende Zahl der erhaltenen Werke im Innern den Gnadenstuhl, also ein Bild der Trinität birgt oder barg, lässt sich begründen: Marias Leib wurde in der hochmittelalterlichen Hymnendichtung als Wohnort der Dreifaltigkeit, als ihr Schrein oder als Bundeslade bezeichnet.
Keine der erhaltenen Schreinmadonnen ist in ihrem ursprünglichen Kontext überliefert. Die Forschung hat daher den nicht unproblematischen Versuch unternommen, von der ikonografischen Besonderheit der Werke auf ihren Gebrauch in der Zeit ihrer Entstehung zu schließen. Dass man die Figuren an hohen Festtagen feierlich geöffnet und diesen Vorgang als äquivalentes Ereignis zur Inkarnation, als „Gnadenakt“, verstanden hätte, wird für den nordalpinen Raum durch keine Schriftquelle bestätigt. Spekulativ blieben auch Versuche, Schreinmadonnen als Reliquiare oder Hostienbehältnisse zu deuten. Es fehlen Hinweise für einen spezifischen Gebrauch der Schreinmadonnen, und es ist durchaus denkbar, dass diese variabel verwendet wurden und sich darin generell nicht von anderen Bildtypen des hohen und späten Mittelalters unterschieden. Extrem unterschiedliche Formate sowie teilweise abnehmbare Kinder oder Kruzifixe im Innern zeigen, dass man allein von der Gestalt, Wandelbarkeit und Ikonografie des Typs keinesfalls seine Funktion ableiten kann. In jedem Fall müssen wir das Objekt selbst nach Spuren seiner Verwendung befragen.
Die Datierung wird durch bestimmte altertümliche Elemente erschwert. So lässt sich etwa die Gewandbehandlung über den Knien auf ältere Marienfiguren der Zeit um 1200 zurückführen. Das etwas archaisch wirkende Gesicht ist nur schwer mit den sicherer datierten Steinbildwerken der Zeit um 1300 am Oberrhein in Verbindung zu bringen. Die umfangreichen Edelsteinimitationen sprechen dafür, dass wir ein der Schatzkunst vergleichbares Werk vor uns haben, widersprechen aber nicht einer Entstehung der Berliner Schreinmadonna um oder sogar vor 1300.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)