Wie die zahlreichen kolossalen und lebensgroßen marmornen Jünglingsbilder, die in den griechischen Heiligtümern als Weihgaben aufgestellt waren, ist auch diese Jünglingsstatuette einst als ein erlesenes Geschenk einer Gottheit, wahrscheinlich der großen Göttin Hera, dargebracht worden. Die Figur wurde in dem berühmten Heiligtum dieser Göttin, dem Heraion auf Samos, ausgegraben, in dem neben Hera auch andere Götter verehrt wurden. Der Jüngling ist als Träger einer Opfergabe dargestellt. In den Händen hielt er wahrscheinlich ein Tier oder andere Gegenstände. Sein Körper ist knapp und fest geformt, sein junges offenes Gesicht wird von welligen, zierlich über Stirn und Schläfen gelegten Haaren eng umrahmt. In dem Loch am Haarrand über der Stirn war als besondere Zierde wahrscheinlich eine Blüte eingesteckt. Die prächtige Fülle der langen Haare fällt in breiten Wellen weit in den Rücken. Die schlanken, kraftvollen Schenkel und Beine, die schmale Hüfte und die breiten Schultern geben der Figur männliche Spannkraft; doch mit zauberhafter Weichheit sind die schwellenden Flächen an Leib, Brust und Schulter gebildet. Man spürt die sinnliche Freude, mit der der Künstler die Anmut des jugendlichen Körpers plastisch geformt hat. Die Statuette ist unter allen samischen Kleinbronzen durch ihre Qualität und Größe ausgezeichnet. Sie wird aus der Werkstatt eines großen samischen Meisters stammen. Der hervorragenden Modellierung entspricht die vollendete technische Ausführung des Hohlgusses und seine nachfolgende Überarbeitung. In dem Weihenden dieser Statuette kann ein Angehöriger der Aristokratie gesehen werden oder, wie Ernst Buschor vermutete, der berühmte Tyrann von Samos, Polykrates selbst, der von 538 bis 522 v. Chr. auf der Insel herrschte und in dessen Regierungszeit die Statuette entstanden sein wird.
Helmut Kyrieleis fand 1984 während einer neueren Ausgrabung im Heraion ein Gegenstück, eine zweite, völlig gleichartige Statuette desselben Jünglings. Sie ist heute ausgestellt im Archäologischen Museum in Samos. Auf ihrem linken Schenkel ist groß und grob eine Inschrift eingepunzt. Sie nennt einen ›Smikros‹, der die Statuette ›der Hera‹ weiht. Sein Name ist bisher auf Samos nicht überliefert. Die Statuetten stimmen im Stil, in der Haltung und in den Maßen vollkommen überein. Die Bedeutung von zwei untereinander vollkommen gleichen Votiven, wie diese Statuetten und andere einzigartige Werke samischer Großplastik, ist bisher ungeklärt. Beide Statuetten werden wahrscheinlich in einzelnen Formen von demselben Modell abgeformt worden sein. Die Berliner Statuette wurde 1979 mit radioaktiven Strahlen durchleuchtet. Die Aufnahmen zeigen an den Seiten der Figur deutlich die aneinanderstoßenden Kanten von zwei Formteilen, von der Vorder- und der Rückseite. Durch Abformen eines Modells eine Gussform aus mehreren Formteilen herzustellen, war bereits in archaischer Zeit eine bewährte Technik.
Der Opferträger steht heute in Berlin auf dem Gipsabguss einer zweistufigen, fast quadratischen Basis mit einer dünnen überstehenden Deckplatte. Das Original dieser Basis wurde 1934 bei Ausgrabungen im Heraion gefunden und ist jetzt im Archäologischen Museum in Samos ausgestellt. Die Statuette war auf dieser Basis einst festgelötet. Auf ihrer Oberseite haben sich Umrisslinien von zwei dicht nebeneinander gesetzten Füßen durch lange Witterungseinflüsse deutlich abgezeichnet, und es sind Reste vom Lot erhalten. Die Füße der Berliner Statuette passen genau in die Spuren auf der Basisoberseite, und es ist sehr wahrscheinlich, dass beide Stücke zusammengehören.
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