Zu Zeiten der romantischen Wiederbelebung des deutschen Mittelalters entdeckte Carl Wilhelm Kolbe (der Jüngere) die märchenhafte Ritter- und Sagenwelt für sich. Im gleichen Jahr wie Karl Friedrich Schinkel geboren, entwickelte sich Kolbe unter dem Eindruck von dessen Malerei zu einem der erfolgreichsten Künstler der Berliner Romantik. Parallel zum literarischen Schaffen Friedrich de la Motte Fouqués oder Ludwig Tiecks komponierte er phantasiereiche romantische Geschichtsbilder. Dichter wie E. T. A. Hoffmann, deren Musenalmanache und Tagebücher Kolbe illustrierte, ließen sich von seinen Arbeiten inspirieren. Durch kunstvoll inszenierte Mond- oder Fackelbeleuchtungen erzielte der Künstler häufig theatralische Lichteffekte. Es entstanden mehrere großformatige Werke zu historischen Legenden und Ereignissen wie beispielsweise »Der tote Barbarossa bei Antiochien« oder »Kaiser Karl V. auf der Flucht« (beide Werke in der Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 57 und A I 56).
In seinem Gemälde »Altdeutsche Straße« stellte Kolbe mit klarer, leuchtender Farbigkeit eine architektonisch vielgestaltige mittelalterliche Stadtansicht dar, möglicherweise inspiriert durch das von den Romantikern wiederentdeckte Erscheinungsbild Nürnbergs. Wie auf einer Bühne agieren vor der verwinkelten Stadtkulisse verschiedene Figurengruppen, etwa eine vor einer Weinschenke fröhlich zechende Gesellschaft, ein dickleibiger Wirt und eine Kellnerin am Weinfaß, zwei Musikanten und ein heulender Hund, Mutter und Kind, eine Alte am Spinnrad, eine Schmiede im Hintergrund sowie Zuschauer an Fenstern und auf Balkonen. Das humorvoll und anekdotenhaft geschilderte Personal läßt an die Märchen der Brüder Grimm denken. | Birgit Verwiebe