Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789) war ein bedeutender Vertreter der Aufklärungstheologie. Seit 1742 lebte er als Hofprediger Carls I. von Braunschweig und Erzieher des Erbprinzen in Braunschweig. 1745 war er Mitbegründer und Leiter des Collegium Carolinum daselbst, einer Bildungsinstitution vorrangig für Beamte. 1752 wurde er Abt von Marienthal und Riddaghausen. Der Nachwelt blieb Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, »der frei und zart denkende Gottesgelehrte«, wie ihn Goethe in »Dichtung und Wahrheit« beschrieb (Goethes Werke, München 1994, Bd. 9, S. 544), durch seine Verdienste wie durch das Unglück seines Sohnes bekannt. Er war Vater des durch seinen Selbstmord 1772 zum Urbild des ›jungen Werther‹ gewordenen Karl Wilhelm Jerusalem.
Friedrich Georg Weitsch pflegte gemeinsam mit seinem Vater enge Beziehungen zum literarisch-geistigen Leben seiner Heimatstadt, in dessen Mittelpunkt über lange Zeit Jerusalem stand. Bereits 1780 hatte Weitsch ihn in einem ersten, nur durch Erwähnung bekannten Bildnis porträtiert. 1789 malte er das vorliegende große Kniestück, das durch den Tod Jerusalems im selben Jahr besondere Aufmerksamkeit fand. Ebenfalls 1789 entstand ein Bildnis für die Freundschaftsgalerie, die der Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim in seinem Haus in Halberstadt zusammentrug (Kriegsverlust). Ob das Bildnis dem Kniestück nachfolgte oder umgekehrt, ist ungewiß. Nach einer der beiden Fassungen des Bildes entstand ein Porträtkupferstich für den Nachruf. Das Kniestück, 1791 als Punktierstich und 1824 als Lithographie reproduziert, zeigt Abt Jerusalem in der Art eines Charakterporträts: mit einem Buch als Zeichen seiner Profession, feingliedrigen Händen, wie im Redegestus erstarrt, und mit ruhigem, weisem Gesichtsausdruck. Das Porträt im Gleimhaus war auf der Rückseite beschriftet: »Abt J. F. W. Jerusalem, wegen seiner Duldsamkeit gemalt von Weitsch d. J. zu Braunschweig 1789« (R. F. Lacher, Friedrich Georg Weitsch, Berlin 2005, Kat. W 27, S. 213). Worauf sich die Betonung der Duldsamkeit bezieht, wissen wir nicht. Der Selbstmord des Sohnes wie die darauffolgenden Geschehnisse um Goethes Roman werden bis ins Alter präsent gewesen sein.
Goethe selbst war Karl Wilhelm Jerusalem während seiner Tätigkeit am Reichskammergericht in Wetzlar 1772 einige Male begegnet. Der empfindsame junge Mann »lebte sich und seinen Gesinnungen. Man sprach von einer entschiedenen Leidenschaft zu der Gattin eines Freundes« (Goethes Werke, ebd., S. 545). Für Goethe wiederum waren die Monate in Wetzlar durch seine Liebe zu der bereits verlobten Charlotte Buff bestimmt. Kurze Zeit später hörte er vom Selbstmord Karl Wilhelms. »Unter solchen Umständen, nach so langen und vielen geheimen Vorbe¬reitungen, schrieb ich den ›Werther‹ in vier Wochen« (ebd., S. 587). Der Briefroman »Die Leiden des jungen Werther« (1774) wurde ein ungeheu¬rer Erfolg. Die Kinder der Aufklärung – und vielleicht besonders jene der Aufklärer selbst – litten unter den geweckten und nicht befriedigten Ansprüchen ebenso wie unter der vernunftbetonten Gedankenwelt ihrer Väter. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai versuchte dem so gefährlichen Buch Goethes 1775 durch das vernünftelnde, Beschränkung propagierende Stück »Die Freuden des jungen Werther« zu begegnen. Wir wissen nicht, welcher Haltung der Vater des toten Karl Wilhelm zuneigte. Als Weitsch ihn am Ende seines Lebens malte, mag er an der auch historischen Bedingtheit der Tragödie einigen Trost gefunden haben. | Angelika Wesenberg