Der Frauenakt – delikat mit verschiedenfarbenen Kreiden auf grauem Papier ausgeführt – mutet in seiner Schönheit und Ausgewogenheit wie ein abgeschlossenes Kunstwerk an. Aber er entstand als Figurenstudie zur Vorbereitung einer Gemäldekomposition. Wunderbar ist der Reflex des Lichtes auf dem Körper beobachtet. Der Schatten, den die Beine werfen, deutet an, daß das Modell auf einer Bank, vielleicht auch auf einer Bettkante saß. Die Frau dürfte sich mit dem ausgestreckten linken Arm an einer Wand oder mit einem Stab abgestützt haben, weshalb der Zeichner die Hand nicht wiedergab. Die Blattrand endenden Schraffen belegen, daß das Papier nicht beschnitten ist.
Von keinem anderen holländischen Landschaftsmaler kennen wir so viele Figurenstudien wie von Adriaen van de Velde. Dieselbe Frau stand ihm mehrmals Modell. Figurenstudien geben oft die Familienangehörigen oder Werkstattkollegen wieder. Als weibliche Aktmodelle aber dienten in Holland Prostitutierte bzw. Frauen, die man wegen dieser Tätigkeit als solche einstufte.
Van de Velde besaß vermutlich einen großen Vorrat an Figurenstudien, auf den er bei der Ausführung seiner Landschafts- und Historienbilder zurückgreifen konnte. Eine genaue Verwendung des in den 60er Jahren entstandenen Berliner Frauenaktes wurde noch nicht nachgewiesen.