Sabine, die Tochter des Berliner Porträt- und Historienmalers Gustav Graef, studierte, als sie dieses Selbstporträt malte, noch nicht lange im Schülerinnenatelier von Carl Gussow in Berlin. Zunächst hatte sie ein Musikstudium begonnen, das sie abbrach, da ihr als Frau der Besuch der Kompositionsklasse verwehrt war. In den bildenden Künsten boten seit kurzem etliche Künstler als Nebenverdienst Damenklassen an. Aber auch ihr Leben als Malerin, als Gattin des Malers Reinhold Lepsius sowie als Mittelpunkt eines Salons, in dem um 1900 unter anderem Georg Simmel, später der Dichter Stefan George verkehrten, blieb nicht von spezifischen Kränkungen frei. In diesem erstaunlich sicheren Selbstbildnis sehen wir die 21jährige Schülerin mit den Insignien der neu gewählten Profession, Pinsel und Palette. Aber sie ist nicht aktiv, die Augen sind fast geschlossen, der Kopf ist sinnend zur Seite geneigt. Es ist ein Moment der inneren Schau oder Inspiration dargestellt; eine Situation, die Arnold Böcklin zehn Jahre zuvor durch den geigenden Tod symbolisiert hatte (Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 633). Es gibt überraschende Ähnlichkeiten zwischen der Haltung der Dargestellten und jener des Engels in Caravaggios »Evangelist Matthäus mit dem Engel« (um 1595/96, Gemäldegalerie, Berlin, Kriegsverlust). Dem Engel ist bei Darstellungen dieser Art eine inspirierende, gleichsam federführende Rolle zugeschrieben. Seine Verschmelzung mit dem Inspirierten selbst war ein sehr moderner Gedanke. Die Künstlerin also zeigt sich hier als »eine inspiriert-Inspirierende« (A. Dorgerloh, Das Künstlerehepaar Lepsius, Berlin 2003, S. 72). Sabine Graef malt sich in diesem Selbstbildnis vor einem neutralen Hintergrund, mit androgynen, vergeistigten Gesichtszügen, nicht aber im Malkittel, sondern in einem modisch anspruchsvollen Kleid, wie es ähnlich die Schauspielerin Sarah Bernhardt trug. Ein ganzes Lebensprogramm scheint in dem Bildnis Ausdruck gefunden zu haben. | Angelika Wesenberg
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