Erhalten ist der lebensgroße Rumpf eines hageren alten Mannes mit gebeugtem Oberkörper und beschädigtem Lendenschurz, der gleichwohl das Genital unbedeckt ließ. Die angespannten Muskeln und Sehnen am Hals und die schräge Bruchfläche zeigen, dass sein Kopf vorgereckt war. Dieser wurde 1989 bei Grabungen in Aphrodisias im Südwesten der Türkei gefunden, und zwar nicht in den hadrianischen Thermen wie angeblich der Berliner Torso, sondern in einem großen Wasserbecken (Kanopus). Der hier als Gipsabguss aufgesetzte Kopf zeigt das angespannte Gesicht eines alten Mannes mit hoher Glatze und gefurchter Stirn, ungepflegten Haaren, wirrem Schnurr- und Backenbart; sein Mund ist wie sprechend geöffnet und lässt die Zähne sehen; die Bohrung der Pupillen verstärkt den Eindruck, als starre er auf den Betrachter. Dank zahlreicher römischer Kopien in Statuen- und Statuettenformat lässt sich die ganze Figur ergänzen: Ein alter Angelfischer steht mit gekrümmtem Rücken und eingeknickten Knien breitbeinig schwer auf dem Boden, den Kopf ruckartig vorgereckt; das schmale Lendentuch ist vorn geknotet, aber die Tuchzipfel lassen die Scham unbedeckt; hinten ist der Stoff so weit hochgerafft, dass auch das Gesäß nackt bleibt; in der gesenkten Linken trug er einen Korb für die Fische; der rechte Arm war leicht gewinkelt und vorgestreckt, die Hand hielt wohl eine Angelrute. Diese Kopien zeigen die Altersmerkmale des Greises noch deutlicher: ledrige und schlaff hängende Haut an Brust und Bauch, Doppelfalten über dem Nabel, hervortretende Sehnen und Adern, knochige Schultern und sperriger Brustkorb charakterisieren den von lebenslanger schwerer Arbeit verbrauchten Körper. Dies ist unübersehbar provozierend vorgetragen durch das Fixieren des Betrachters. Am Rande des langgestreckten Wasserbeckens von Aphrodisias aufgestellt, diente unsere Statue mit Dutzenden weiteren Skulpturen der prachtvollen Ausstattung einer aufwändigen Architektur. Dieses Bauwerk entstand erst in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts n. Chr., also mehr als vierhundert Jahre nach der Erfindung des Originals. Dieses war aus Bronze gefertigt, wie – neben den unterschiedlichen Stützelementen – der für einige Steinkopien verwendete schwarze oder graue Marmor bzw. Basalt belegt. Namengebend für den Statuentypus war eine Kopie im Louvre, die seit dem im 16. Jahrhundert irrtümlich als Darstellung des sterbenden römischen Dichters Seneca galt. Das originale Vorbild aber gehörte zu einer Gruppe hellenistischer Skulpturen, die Fischer, Hirten, Bauern, Marktfrauen, Bettler oder Krüppel in schamloser Haltung und in ihrem körperlichen Verfall darstellten – ein unerhörter Kontrast zur ›klassischen‹ Schönheit der allenthalben in Heiligtümern und auf Plätzen zu bewundernden Götter- und Heldenbilder. Die bildende Kunst erhob das Hässliche zu einer eigenen ästhetischen Kategorie, bis hin zur Karikatur und Groteske. In einer Zeit politischer und sozialer Umwälzungen schärfte sich auch in den bürgerlichen Schichten der Blick für die ›kleinen Leute‹, ihre durch schwere Arbeit, Krankheit und Alter verunstalteten Körper. Zugleich ist dies aber auch Ausdruck einer beunruhigenden Beschäftigung mit der Hinfälligkeit des eigenen Körpers, eine stellvertretende Frage nach dem Sinn des Lebens, vorgetragen an den Ausgegrenzten der Gesellschaft. So wird das Original unseres Torsos, die ursprüngliche Statue eines alten Fischers, als Weihgeschenk eines reichen Stifters vielleicht in einem Heiligtum aufgestellt, auch als eindringliches memento mori für den Betrachter zu deuten sein.