Erhalten ist der Oberkörper mit Oberschenkeln und rechtem Arm des Speerträgers (Doryphoros) des hochklassischen Bildhauers Polyklet, einer Statue, die als das "klassische" Kunstwerk schlechthin gilt. Polyklet verfasste auch eine als "Kanon" bezeichnete Schrift zu seinem Werk, in der er die Proportionen des menschlichen Körpers in Zahlenverhältnissen festlegte. Als Maßeinheit dienten die Einheiten des Körpers selbst, etwa das Verhältnis von einem Finger zum anderen, zur Hand, zum Unterarm, zum ganzen Arm usw. Im Doryphoros sind die Prinzipien des »Kanon« besonders klar demonstriert. Die Statue wurde deswegen besonders berühmt und sehr häufig relativ genau reproduziert, das Original bestand aus Bronze. Beim Doryphoros ist die Ponderation – die Unterscheidung von tragenden und entlasteten Teilen bei einem der Schwerkraft unterworfenen Körper – zum ›Kontrapost‹ weiterentwickelt: Der entlastete Fuß war weit zurückgenommen und nur mit dem Ballen aufgesetzt. Der Stand wird dadurch sehr labil. Hüfte und linea alba sind gegenüber der Waagerechten und der Senkrechten extrem stark verschoben, werden aber durch sich überkreuzende Querbezüge (Chiasmus) zum Ausgleich gebracht: Auf der belasteten Seite ist der Arm entspannt, auf der Spielbeinseite ist der Arm, der den Speer trug, aktiv angewinkelt. Die Schräge des Beckens wird durch die Gegenschräge der Schultern ausgeglichen. Der Kopf war, der Körperschwingung folgend, zum belasteten Bein gewandt. Kräfte und Gegenkräfte sind zu einer rational gestalteten Harmonie, dem "Kontrapost", verbunden. Die ausgeprägte Blockform des Körpers – von der antiken Kunstkritik als viereckig, vierschrötig bezeichnet (quadratus) – führt auch diesen als gegliedertes Funktionsgefüge vor.