Das wichtigste Ereignis der Heilsgeschichte, die erlösende Auferstehung Christi am Ostermorgen, wird von drei Frauen entdeckt, die dem Heiland besonders nahe standen. Für die drei Marien war die Erscheinung des Engels ein so ungeheueres Erlebnis, dass sie nach der Offenbarung aus dem Grab flohen, "denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen", wie im Markusevangelium berichtet wird. Jacques Bellange zeigt die Frauen auf seiner Radierung gleich zweimal: Im Hintergrund nähern sie sich mit zögerlichen Bewegungen dem Bestattungsort. Vorne jedoch sind sie so monumental ins Bild gesetzt, dass ihre Größe über zwei Drittel der Bildfläche ausfüllt. Die hohen Gestalten bewegen sich mit tänzerischer Anmut, wobei ihre geschwungenen Körper in fantastische Gewänder gehüllt sind. Durch den transparenten Stoff zeichnen sich die Bauchnabel ab und offenbaren die subtile Erotik der Szene, die durch die wohlgeformten Nackenpartien und kunstvollen Frisuren der Frauen noch unterstrichen wird. In Rück-, Vor- und Seitenansicht scheinen sich die weiblichen Heiligen wie höfische Damen bei einem gezierten Tanz vor den Augen des Betrachters zu drehen und zu wenden. Ihre Blicke jedoch sind auf die unglaubliche Erscheinung geheftet, die auf dem geöffneten Sarkophag Platz genommen hat: Ein geflügelter Engel, mit ebenso durchscheinendem Gewand und hochgesteckter Frisur, weist in merkwürdig gewundener Pose sowohl auf den Sarg als auch auf den Höhleneingang, und verdeutlicht so gestenreich die im Markusevangelium zitierten Worte: "Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. Geht aber hin und sagt seinen Jüngern..." (Mk 16, 6-7). Das seelische Empfingen der drei wichtigen Augenzeugen äußert sich besonders in der unnatürlichen Körperlichkeit. Künstlichkeit als Ausdruck innerer Fassungslosigkeit über das christliche Ostergeschehen, diese Bilderfindung Bellanges ist ohne Vergleich. Form und Inhalt seiner Darstellung werden durch die raffinierte Radiertechnik unterstützt. Dichte Kreuzschraffuren, zarte Parallellinien und tüpfelnde Punktierungen erreichen kontrastierende, künstliche Oberflächenwerte, die sich zu einer zitternden Sinnlichkeit verbinden. [D.S.]
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