Neben Herakles zählte Theseus zu den beliebtesten Helden in der klassischen Antike. Der Sohn des mythischen attischen Königs Aigeus musste ebenso wie Herakles in seiner Jugend zahlreiche Taten vollbringen, darunter auch Kämpfe gegen diverse Ungeheuer bestehen. Im kretischen Labyrinth bezwang und tötete er den Stiermenschen Minotauros, der alljährlich von den tributpflichtigen Athenern das Opfer von 14 jungen Frauen und Männern forderte, und befreite seine Heimatstadt so von der fürchterlichen Fron. Die Episode zählt zu den ältesten überlieferten Theseus-Sagen und zu einer der über Jahrhunderte in der bildenden Kunst am häufigsten dargestellten Heldensagen überhaupt. Ihre höchste Konjunktur hatte sie allerdings bereits in archaischer und klassischer Zeit, vom 7. bis ins 5. Jahrhundert v. Chr.
Die Berliner Bronzegruppe zeigt die beiden Kontrahenten in einem kampfentscheidenden Moment: Theseus hat Minotauros von hinten angesprungen und ihn zu Boden bezwungen. Mit seinem linken Schenkel drückt der Held seinem Gegner in die rechte Flanke und stemmt sich mit aller Macht gegen ihn, Minotauros ist bereits vornüber gestürzt, das linke Knie fast auf dem Boden, der große Zeh des rechten Fußes berührt schon den Grund. Mit festem Griff hält Theseus den Stiermenschen, die Linke packt das Stierhorn, die Rechte die Schulter. Nur schwach wehrt sich Minotauros, versucht Theseus’ Arm vom Horn wegzureißen, während er seine rechte Hand völlig untätig über die eigene Brust führt. Theseus’ Sieg in diesem Ringkampf steht unmittelbar bevor, im nächsten Moment wird er dem Monster das Genick brechen.
Die sehr gut erhaltene, unmittelbar nach ihrem Ankauf nur geringfügig ergänzte und 1968 noch einmal restaurierte Gruppe ist hohl gegossen. Die auffällig parallele Erscheinung etwa der beiden rechten Beine, aber auch der Oberkörper von Theseus und Minotauros deutet darauf hin, dass einzelne Körperteile aus gleichen Hilfsnegativen geformt und im Wachsmodell individuell nachbearbeitet wurden (Hinweis Uwe Peltz). Abgeplattete Partien auf den ansonsten vollplastisch gebildeten Rückseiten beider Figuren geben Hinweise auf die ursprüngliche Funktion: Demnach haben wir es hier nicht mit einer selbständigen Statuette zu tun, sondern mit einer Applik. Auf welcher Unterlage die Gruppe ehemals aufsaß, kann nur noch spekulativ beantwortet werden; diskutiert wurden Truhen oder andere Möbel. Die Datierung in späthellenistische Zeit, die von der Forschung seit längerem übereinstimmend favorisiert wird, ergibt sich aus stilistischen und formalen Kriterien. Aufgrund der Existenz einer vergleichbar großen Bronzeapplik gleichen Themas und Komposition aus Lixus im heutigen Marokko (heute im Museum von Rabat) kann als gesichert gelten, dass die Berliner Gruppe aus Kleinasien wie ihr nordafrikanisches Pendant Reflexe eines verlorenen großplastischen Vorbilds sind. Fraglich bleibt dabei nur, ob dieses Vorbild eine eigenständige Schöpfung der späthellenistischen Epoche oder der spätklassischen Zeit war.
Die in der jüngeren Forschung zuweilen geäußerte Vermutung, dass mit dieser mythologischen Gruppe eine Allegorie auf einen siegreichen hellenistischen König gemeint sei, ist wohl unzutreffend. Das völlige Fehlen von Porträtzügen beim Kopf des Theseus – die Binde im Haar ist beim Heros häufig anzutreffen – gibt dafür zumindest überhaupt keine Anhaltspunkte. Auch der Vergleich mit selbständigen Statuetten ptolemäischer und seleukidischer Könige in Ringkampf oder Pankration zeigt, dass die Gemeinsamkeiten mit unserer Applik nur allgemein formaler Natur sind.