Die Konsole hat eine kelchförmige Gestalt mit Blattornamenten und rechteckiger Deckplatte. Die Deckplatte zeigt jeweils fünf Seiten eines Achtecks und ist wohl dadurch zu erklären, dass sie an einer der beiden Wandzungen, an den rechtwinklig abknickenden Seiten des Portals gestanden haben wird. Der vegetabile Schmuck besteht aus einer Reihe von Blättern, die dem Kelch aufgelegt sind und zur eckigen Form der Deckplatte vermitteln. Dadurch wird die tektonische Strenge überspielt, ohne gegen die Konventionen des Aufbaus einer gotischen Konsole zu verstoßen.
Die Kirche des in den 1030er-Jahren am linken Aaufer gegründeten Damenstifts Liebfrauen war von Beginn an zugleich Pfarrkirche der Bürger der Münsteraner Vorstadt Überwasser. Diese Doppelfunktion, die sich auch in der Finanzierung und Nutzung des 1340 begonnenen Neubaus spiegelt, dürfte für die Konzeption des Westportals von Bedeutung gewesen sein.
Mit der Errichtung des Turms wurde, wie man aus einem Bauvertrag weiß, 1363/64 begonnen. 1374 ließ Fürstbischof Florenz von Wevelinghoven (amt. 1364–78) mehrere Reliquien in der rechten Schulter des Marienbildes am Portal einschließen und man hat zu Recht angenommen, dass zu diesem Zeitpunkt das Portal mit seinem Figurenschmuck vollendet war, vielleicht auch schon bereits seit mehreren Jahren.
Die Funktion der Konsolen ist die Vermittlung zwischen der streng geometrischen Architektursprache des kunstvollen Portalgebildes und der menschlichen Figur. Daher wurden auch die einzelnen Glieder (Halsring und Kelch) in fantasievolle pflanzliche Gebilde aufgelöst, deren wohl kalkulierter Verismus nicht auf effektvolle Überraschung abzielt, sondern der Wirkungs- und Bedeutungseinheit von Architektur und Skulptur dient.
Die Konsolen des Westportals der Liebfrauenkirche passen gut in die Genese gotischer Laubwerkgestaltung, bei der um 1350 eine Tendenz zur stärkeren Bewegung und einem Verwischen der Grenzen zwischen Wand und Ornament festzustellen ist.
Die Werkstatt hat, wie die geringere Qualität der späteren Konsolen in Münster zeigt, die Stadt wieder verlassen, möglicherweise, um in Utrecht zu arbeiten, wo sich am Dom um 1380 vergleichbare figürliche Darstellungen finden. Der Steinmetz hat sich eindeutig an der Bauornamentik des Kölner Doms orientiert, wie eine Durchsicht der dortigen Kapitelle im Chor und Langhaus zeigt.
(Auszug aus: Tobias Kunz, Bildwerke nördlich der Alpen. 1050 bis 1380. Kritischer Bestandskatalog der Berliner Skulpturensammlung, Petersberg, Michael Imhof Verlag 2014)