Die »Frauen am Potsdamer Platz«, die er [Kirchner] auch in verschiedenen Gemälden darstellt, mögen heute auf den ersten Blick als mondäne Damen der Oberschicht erscheinen, denen Kirchner einen großen Auftritt gestattet. In Wahrheit sind ihr Aufzug und ihre Posen Lockmittel zum Kauf, denn es handelt sich um Huren, die sich auf einer Verkehrsinsel postiert haben. Der Vergänglichkeit ihrer Reize und ihrer stetigen Gefährdung entsprechen die Hektik der Menschen auf dem Platz, der heftige Bruch zwischen den Größendimensionen der Gestalten vorn und im Hintergrund, der manches Mal abrupte Wechsel von der Auf- zur Untersicht, die überschnell in die Tiefe fluchtende Straße und die aggressiv-spitzen Winkel, die z.B. hier und an den Ecken des Bahnhofsgebäudes mit der auf die Endlichkeit des Lebens verweisenden Uhr auftreten. »Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg. Trotzdem versuche ich immer noch Ordnung in meine Gedanken zu bringen und aus dem Verworrenen ein Bild der Zeit zu schaffen, was ja meine Aufgabe ist.« So Kirchner im März 1916, nachdem er im Krieg körperlich und seelisch zusammengebrochen ist […]. Seine »Frauen am Potsdamer Platz« sind neuzeitliche, prophetische Vanitas-Bilder.