Gravestones 4 (2004) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
„Ich fühle, dass die Zeit vorbei ist
Ich fühle, dass der Moment mein Anteil an den Blättern der Geschichte ist”
Forugh Farrokhzad, „Das Fenster”
Können Künstler*innen Geschichte vermitteln?
Stellen Künstler*innen Ereignisse und Zeit exakt dar?
Sind Fotos Vergangenheit oder Gegenwart?
Teil der Serie "Hall of Reflections" - in der Ausstellung "Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunst Berlin (2019) von Teraneh HemamiPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Hier begeben wir uns auf eine Reise durch die Vergangenheit Irans und zu vier zeitgenössischen Künstler*innen, die ihre Gegenwart über die Vergangenheit reflektieren. Jeder Künstler blickt nicht weiter zurück als bis zur Einführung der Fotografie Mitte des 19. Jahrhunderts und beschäftigt sich mit verschiedenen Momenten der modernen Geschichte des Iran. Wir laden Sie ein, diese Geschichte und die vielfältigen Geschichten der persönlichen und kollektiven Gemeinschaften der Künstler*innen zu entdecken.
"Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunst (2019) von Arman Stepanian / Shadi GhadirianPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Capturing Iran’s Past, FotoKunst
Eine Ausstellung zeitgenössischer Fotografie im Museum für Islamische Kunst, Berlin
Capturing Iran's Past. FotoKunst – PhotoArt – هنر عکاسی war eine Sonderausstellung zeitgenössischer iranischer Fotografie im Museum für Islamische Kunst, Berlin vom 7. November 2019 bis zum 26. Januar 2020. Die Ausstellung war die erste ihrer Art für das Museum und präsentierte zahlreiche Werke zeitgenössischer Kunst neben der permanenten Sammlungspräsentation historischer Objekte, wie hier die berühmte Mschatta-Fassade. Zusammen mit der Sammlung des Museums gibt die Ausstellung Einblicke in das lebendige kulturelle und künstlerische Leben des Iran und seiner Menschen.
Capturing Iran's Past | Trailer (2020) von Astrid AlexanderPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Subtile Rebellionen und moderne Frauen
Seit der Einführung der Fotografie im Iran haben Frauen ihre kreative Gestaltungskraft eingebracht und die Reflexion ihrer sozialen Rolle und ihrer Darstellung aktiv mitgetragen.
Qajar #19 (1998) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
Shadi Ghadirian
Qajar, 1998
Shadi Ghadirian re-inszeniert iranische Studioporträts des 19. Jahrhunderts in Qajar mit nur weiblichen Darstellerinnen neu.
Qajar #1 (1998) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
Ghadirians Fotografien erinnern an die fotografischen Aufnahmen von Frauen am Hof der Kadscharen. Szenerie, Kleidung und die oft direkte Auseinandersetzung der Porträtierten mit der Kamera nehmen Bezug auf die historischen Fotografien.
Ghadirian durchbricht diese Historizität, indem sie zeitgenössische materielle Objekte wie eine Getränke-Dose …
Qajar #9 (1998) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
… oder eine Sonnenbrille einbezieht.
Qajar #18 (1998) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
Oft tabu, wenn nicht verboten …
… zeugen die zeitgenössischen Objekte und der Blick der Porträtierten von dem Bedürfnis jeder Frau, ihre traditionellen und modernen sozialen Positionen zu verhandeln.
Anis al-Dowleh (um 1860) von Nasir al-Din Shah QajarOriginalquelle: Golestan Palace
Irans früheste Fotografien
Die Fotografie wurde 1842 im Iran eingeführt, kurz nach ihrer Erfindung 1839 in Frankreich. Schnell angenommen, war sie in den Kreisen der iranischen Eliten sehr verbreitet. Nasir al-Din Shah Qajar (r. 1848-1896) war selbst ein passionierter Fotograf. Seine Frauen und Kinder waren eines seiner bevorzugten Motive. Die Frauen tragen oft Shalitehs, Adaptionen europäischer Ballett-Tutus, oder werden mit Requisiten abgebildet, wie Fahrrädern …
Anis al-Dowleh (um 1860) von Nasir al-Din Shah QajarOriginalquelle: Golestan Palace
… und Puppen. Heute sind diese Bilder wichtige Dokumente für das höfische Leben von Frauen während der Kadscharen-Ära.
Doorbells 2 (2000) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
Erinnerung
Wie prägen die Menschen, die vor uns lebten und unsere Erinnerung an sie unsere heutige Welt?
Arman Stephanian
Gravestones, 2004
Doorbells, 2000
Arman Stephanians Serie Grabsteine und Türklingeln verbindet historische Schwarz-Weiß-Porträts mit heutigen Orten und Räumen.
Doorbells 3 (2004) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
Die historischen Fotografien zeigen iranische Armenier, von denen viele im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Porträtstudios betrieben oder besucht haben. Durch die Nebeneinanderstellung der Porträts zu Eingangsbereichen und …
Gravestones 1 (2004) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
… Grabsteinen thematisiert Stephanian die Verbindung von Erinnerung, Leben und Tod.
Gravestones 3 (2004) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
Gravestones 2 (2004) von Arman StepanianOriginalquelle: Afrand Gallery / Arman Stepanian
Einen Moment festhalten
Sobald sich der Verschluss des Kameraobjektivs schließt, ist der Moment, den das zukünftige Foto darstellt, bereits vergangen. Fotografie ist an die Vergangenheit gebunden und kann als Erinnerungshilfe dienen. Sie wird als Möglichkeit gesehen, erlebte Momente oder authentische Abbilder einer Person festzuhalten. In diesem Sinne nutzte man die Fotografie im Iran seit ihrer Einführung 1842 bis in die 1960er Jahre. Seitdem wird sie zunehmend nicht nur zur Dokumentation, sondern auch als künstlerisches Medium eingesetzt.
"Irandokht" und "The Registration Congregation of Iranian Men" in der Ausstellung "Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunszt (2019) von Najaf ShokriPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Identität
Zeigen Ausweisfotos eher individuelle oder kollektive Identität?
Najaf Shokri
Irandokht, 2006-09
The Registration Congregation of Iranian Men, 2006-12
Die Serien Irandokht und The Registration Congregation of Iranian Men bestehen aus Scans von Fotografien aus Personalausweisen (Schenasname).
Aus der Serie "The Registration Congregation of Iranian Men" (2006/2012) von Najaf ShokriOriginalquelle: AG Galerie / Najaf Shokri
Shokri fand die weggeworfenen Ausweise in Abfallbehältern im Hof des Einwohnermeldeamts in Teheran.
Die Ausweise wurden 1942 ausgestellt, die Fotos entstanden deutlich später und wurden nachträglich eingefügt.
Aus der Serie "Irandokht" (2006/2009) von Najaf ShokriOriginalquelle: AG Galerie / Najaf Shokri
Jeder einzelne Ausweis ist zugleich Ausdruck individueller und kollektiver Identität.
Die Ausweise dokumentieren persönliche Eigenschaften wie Name oder Geburtsdatum, aber auch die iranische Staatsbürgerschaft. Weggeworfen zeugen diese Ausweise von sich wandelnden Identitätsvorstellungen im postrevolutionären Iran.
Aus der Serie "Irandokht" (2006/2009) von Najaf ShokriOriginalquelle: AG Galerie / Najaf Shokri
Was verraten offizielle Ausweise über ihre Besitzer?
Kollektive Identität wird geprägt durch eine gemeinsame Sprache, Geographie oder Religion, aber auch durch eine gemeinsame Vergangenheit. Individuelle Identität basiert auf persönlichen Erfahrungen. Die iranischen Ausweispapiere (Schenasname) sind der offizielle Ausdruck iranischer Identität. In den Ausweisen sind wesentliche Daten und Ereignisse wie Geburtsdatum, Heirat, Scheidung oder Zahl der Kinder verzeichnet. Die Ausweise wurden erstmals während der Regierungszeit von Reza Schah Pahlavi eingeführt. Nach der iranischen Revolution waren neue Ausweispapiere erforderlich.
Migrationen
Migrantengeschichten sind oft geprägt von einem tiefen Gefühl der Distanz sowohl zu den Orten und Gemeinschaften, die sie zurückgelassen haben, als auch zu denen, in die sie sich anpassen wollen.
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
Teraneh Hemami
Hall of Reflections, 2000-2012
Wie viele Iraner*innen emigrierte Teraneh Hemami in den 1970ern als Studentin in die USA und lebt seitdem dort. Für Hall of Reflections …
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
... hat Hemami Fotografien …
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
… und Briefe iranischer Emigranten aus Kalifornien zusammengetragen …
Teil der Serie "Hall of Reflections" - in der Ausstellung "Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunst Berlin (2019) von Teraneh HemamiPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
… und zu Spiegel-Assemblagen verarbeitet. Die Materialwahl verweist auf eine im Iran verbreitete Architekturform ...
Spiegelsäle (talar-e ayineh), Haus von Moschir al-Molk (sogennante Haus von Tscharmi, Khaneh-ye Tscharmi) (spät. 19. Jh.)Originalquelle: Museum for Islamic Heritage
... die Spiegelsäle (talar-e ayineh).
"Hall of Reflections" Detail - in der Ausstellung "Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunst Berlin (2019) von Teraneh HemamiPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Indem sie die Erinnerungsstücke auf Spiegel druckt, stellt Hemami eine Verbindung her zwischen diesem Architekturelement und der Wahrnehmung des Betrachters, der sein Spiegelbild in den Assemblagen erkennt.
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
Verbunden bleiben
Die persische Sprache kennt ein besonderes Wort um die Gefühlslage von Emigranten zu beschreiben:
غربت
ghorbat
umfasst Nostalgie, …
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
… die Sehnsucht nach einem fernen Ort …
Aus der Serie "Hall of Reflections" (2000/2012) von Teraneh HemamiOriginalquelle: AG Galerie / Teraneh Hemami
… und auch den Schmerz, nicht dazu zu gehören.
Im Iran des 20. Jahrhunderts nahm die Auswanderung aufgrund sozialer und politischer Beschränkungen stark zu. Die größten Auswanderungswellen erfolgten in den letzten Jahren der Pahlavi-Ära (1925–1979), während der Iranischen Revolution (1978–1979) und während des Iran-Irak-Kriegs (1980–1988).
Krieg und zerbrochene Gemeinschaften
Unabhängig davon, wo gekämpft wird, verändert der Krieg das Leben zu Hause erheblich, und seine Auswirkungen können Generationen überdauern.
Nil Nil #6 (2008) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
Shadi Ghadirian
Nil Nil, 2008
Der Titel der Serie Nil Nil (Null-Null) ist eine Anspielung darauf, dass der Iran-Irak-Krieg ohne einen klaren Gewinner endete.
Ghadirian erlebte den Konflikt als Kind, ihre Serie thematisiert die allgegenwärtige Präsenz des Krieges im iranischen Alltag. In ihren Fotografien platziert sie Kriegsausstattung und Waffen in einem häuslichen Umfeld.
Nil Nil #1 (2008) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
Die Komposition der Gegenstände ist so subtil, dass die Zusammenstellung teilweise erst auf den zweiten Blick auffällt.
Nil Nil #10 (2008) von Shadi GhadirianOriginalquelle: Silk Road Gallery / Shadi Ghadirian
In ihrer Gesamtheit stehen die Fotografien für die Erfahrung, wie der Krieg auch in den Alltag eindringt und dass diese Erfahrung das Leben im Iran bis heute beeinflusst.
Wandbild für die Märtyrer des Iran-Irak-Krieges (2019) von Agnes RamederPergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Gedenken an das Verlorene
Der Iran-Irak-Krieg begann 1980. Die irakische Führung versuchte die nach-revolutionäre Situation im Nachbarland auszunutzen und marschierte in den Iran ein. Der Krieg endete acht Jahre später mit einem Waffenstillstand, den die Vereinten Nationen ausgehandelt hatten. Die Grenzen zwischen Iran und Irak blieben nahezu unverändert. Der Krieg hatte schwerwiegende Auswirkungen, die noch heute spürbar sind. Auf beiden Seiten starben Hunderttausende. Bis heute wird die Erinnerung an die Kriegstoten in iranischen Stadtlandschaften durch Fotos und Wandmalereien bewahrt. Vor allem junge Männer werden als Märtyrer verehrt und ihr Verlust ist in der Erinnerung all jener präsent, die den Krieg überlebt haben.
Plakat der Ausstellung "Capturing Iran's Past" im Museum für Islamische Kunst (2019) von Nikola AehlePergamonmuseum, Staatliche Museen zu Berlin
Die Ausstellung Capturing Iran`s Past. FotoKunst - PhotoArt - هنر عکاسی im Museum für Islamische Kunst, Berlin (07.11.2019 - 26.01.2020) wurde gefördert vom Hauptstadtkulturfonds Berlin und den Freunde des Museums für Islamische Kunst e.V. In Zusammenarbeit mit den Künstlern sowie der Afrand Gallery Teheran, der AG Galerie Teheran, und der Silk Road Gallery Teheran.
Katalog
Text: Museum für Islamische Kunst, Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Konzept / Bearbeitung: Astrid Alexander und Margaret Shortle
Video: Astrid Alexander
Basierend auf: „Capturing Iran’s Past. FotoKunst – PhotoArt – هنر عکاسی", eine Ausstellung ko-kuratiert von Agnes Rameder, Margaret Shortle, Martina Müller-Wiener und Stefan Weber. Museum für Islamische Kunst im Pergamonmuseum, 07. Nov. 2019 - 26. Jan. 2020.
© Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Museum für Islamische Kunst
Interessiert am Thema „Visual arts“?
Mit Ihrem personalisierten Culture Weekly erhalten Sie Updates
Fertig!
Sie erhalten Ihr erstes Culture Weekly diese Woche.