Katarzyna Wielga-Skolimowska, Direktorin des Polnischen Instituts Berlin:
„Die Streiks rund um die von Lech Wałęsa geführte Gewerkschaft NSZZ Solidarność lösten eine der größten Freiheitsbewegungen des 20. Jahrhunderts aus und führten schließlich zur politischen Wende in Polen. Unzählige Profifotografen und Amateure waren mit ihren Kameras dabei und lieferten ikonische Bilder der Proteste. Fotografien von bekannten Dokumentarfotografen wie Erazm Ciołek oder Stanisław Markowski sind ins kollektive Bildgedächtnis eingegangen. Zum großen Teil noch unentdeckt sind hingegen die Bilder von weniger bekannten Fotografen und Amateuren. Im Archiv des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig schlummern Schätze, die unbefangene und intime Einblicke in die Streiks auf der Danziger Werft geben und von bisher im öffentlichen Diskurs wenig beachteten Ereignissen erzählen. Zu den eindrucksvollsten Arbeiten gehören zum Beispiel Bilder, die bei den Protesten an polnischen Universitäten entstanden sind. Die Kuratorin der Ausstellung, Sabine Weier, hat Bilder aus dem Danziger Archiv zusammengestellt, die einen anderen Blick auf die Geschichte von Solidarność ermöglichen. Ein Teil davon wird in dieser Ausstellung das erste Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sind künstlerische Arbeiten und Amateuraufnahmen, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken und eine Atmosphäre der Hoffnung transportieren, die es letztlich ermöglichte, das Projekt Freiheit zu verwirklichen.”
Basil Kerski, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig:
„2014 ist ein bedeutendes Jahr der europäischen Erinnerung. In diesem Jahr blicken wir nicht nur auf die Ausbrüche des Ersten und Zweiten Weltkriegs vor 100 und 75 Jahren zurück, sondern erinnern auch an den Sieg der antikommunistischen Revolutionen in Mitteleuropa vor 25 Jahren. In Erinnerung an den Sieg der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność vor 25 Jahren wird am 30./31. August 2014 in Danzig das Europäische Solidarność-Zentrum (Europejskie Centrum Solidarności / ECS) mit einer großen Dauerausstellung über die Revolutionen in Polen und in Mittel- und Osteuropa sowie über den Zusammenbruch der Sowjetunion eröffnet. Das Zentrum ist ein außergewöhnlich ambitioniertes Projekt, eine Kulturinstitution neuen Formats: Das ECS ist nicht nur ein Museum mit Archiv, das der Verbreitung historischen Wissens über die Solidarność-Bewegung und die antikommunistische Opposition in Polen sowie Europa dient, sondern auch ein Haus des Dialogs über die Welt von heute.”
1980 wird die Danziger Leninwerft zur Insel des politischen Widerstands in Polen: Aus einem Arbeiterstreik heraus formiert sich hier die unabhängige Gewerkschaft NSZZ Solidarność. Sie wird schnell zur nationalen Freiheitsbewegung. Im Dezember 1981 verhängt General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen – rund 10.000 Oppositionelle werden interniert, viele kommen ums Leben. Die Gewerkschaft agiert aus dem Untergrund weiter, die Solidarität unter Arbeitern, Intellektuellen, Lehrern, Ärzten, Studierenden und Unterstützern aus der ganzen Welt bleibt ungebrochen, bis 1989 schließlich alle den Umbruch erleben. Lech Wałęsa, erst Streikführer und später Vorsitzender der Solidarność, wird 1990 in den ersten freien Präsidentschaftswahlen zum Staatsoberhaupt Polens gewählt.
Piotr Babiński und seine Familie legen ein Privatarchiv mit tausenden Fotografien an, um die Proteste in Polen zu dokumentieren. Babiński drückt selbst ab, seine Mutter Genowefa Babińska trägt die Filmrollen zum Wechseln in der Handtasche mit. Die beiden hier zu sehenden Amateuraufnahmen zeigen, wie brutal die Miliz bei einem Arbeiteraufstand gegen Demonstrierende vorgeht.
Stanisław Składanowski wird 1950 in Książnik geboren. 1964 kommt er nach Danzig, wo er im Alter von 18 Jahren Arbeiter in der Leninwerft wird. 1975 beginnt er zu fotografieren, porträtiert die Stadt und die Menschen. Er ist von Anfang an dabei, als im August 1980 der Streik auf dem Werftgelände ausbricht, fotografiert unerschrocken, wird bei einem Einsatz der Miliz sogar verletzt. Nach Ausrufung des Kriegsrechts wird er für einige Monate interniert. 1988 wird er Mitglied von ZPAF, dem Verband Polnischer Kunst-Fotografen.
Leonard Szmaglik wird 1937 in Brusy geboren. Er arbeitet in der Danziger Nordwerft. 1955 fängt er an, zu fotografieren. Er porträtiert die Stadt und ihre Menschen, über die Jahre hinweg entstehen hunderttausende Bilder. 1980 und 1981 begleitet er die Proteste auf der Werft mit der Kamera. Ihm gelingt ein eindringliches Porträt von Anna Walentynowicz. Die Kranführerin unterstützte schon die polnische Streikbewegung von 1970 und setzte sich für die Gleichberechtigung von Arbeiterinnen ein. Ihre Entlassung wird zum direkten Auslöser des Streiks der Werftarbeiter im August 1980. Neben Lech Wałęsa ist Walentynowicz die wichtigste Symbolfigur der Solidarność-Bewegung.
Sławomir Fiebig wird 1953 in Pleszew geboren. Schon als Kind fängt er an, zu fotografieren. 1971 schreibt er sich in Danzig für ein Chemie-Studium ein, noch ist es nicht möglich, Fotografie zu studieren. Er legt sich eine in der DDR produzierte Pentacon six TL zu und schießt Bilder auf Rollfilm im klassischen 6x6 Mittelformat. Das quadratische Format erlaubt besondere Bildkompositionen, etwa bei den Aufnahmen, die zeigen, wie Mitarbeiter der Gewerkschaft NSZZ Solidarność vor der Zentrale in Danzig ein Transparent aufhängen. Sie fordern darauf Freiheit für politische Gefangene. 1980 streikt Fiebig als Arbeiter der polnischen Chemie-Fabrik Pollena mit, ab 1981 ist er als Angestellter der Solidarność nah am Geschehen. In den Achtzigerjahren widmet er sich verstärkt der Reportagefotografie und publiziert seine Bilder unter anderem im deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“.
Wojciech Milewski wird 1936 in Warschau geboren. Er studiert Chemie in Łódź und Szczecin. Ab den 1970er Jahren arbeitet er als Berufsfotograf in Danzig. 1980 wird er Mitglied der Solidarność und dokumentiert die Ereignisse mit einer einfachen, in den sowjetischen Lomo-Werken hergestellten Kleinbildkamera des Modells „Smena“. Er fotografiert unter anderem den ersten Kongress der unabhängigen Gewerkschaft 1981 in Danzig. In der Zeit des Kriegsrechts nach 1981 drohen unabhängigen Fotografen hohe Haftstrafen. Bei der Niederschlagung von Protesten hätte die Miliz damals oft zuerst die Fotografen umzingelt und bedroht, erinnert sich Milewski. Doch für ihn steht fest: Die ganze Welt soll erfahren, was in Polen los ist. Er und seine Kollegen verschicken Fotografien ins Ausland und verstecken sie in verschiedenen Wohnungen und Kirchen. Einige Bilder werden von Informanten an die kommunistischen Sicherheitsbehörden verkauft.
Zdzisław Andrzej Fic wird 1951 in Danzig geboren. Während der Streiks im Sommer 1980 übersetzt er für ausländische Journalisten, die aus ganz Europa anreisen. Jeden Tag eilt er direkt nach der Arbeit zur Leninwerft. Um sich nicht in Gefahr zu bringen, nimmt er nur wenige Male eine Kamera mit auf das Werftgelände. Er macht Aufnahmen von Details der Räume und porträtiert einige Freunde, die sich bei den Streiks engagieren. Einige tragen T-Shirts mit dem von Jerzy Janiszewski entworfenen Logo der Solidarność, andere eines mit dem Logo des unabhängigen Verlages „Nowa“, der aus dem Untergrund agiert und an der Zensur vorbei verbotene Literatur und politische Magazine druckt.
Leszek Biernacki wird 1959 in Sopot geboren. Er studiert Polnische Philologie an der Universität Danzig. 1980 streikt er auf der Leninwerft mit und dokumentiert die Ereignisse. Er ist damals selbst noch Student, wird Teil der solidarischen Protestbewegung der polnischen Studierenden und gründet 1980 den Unabhängigen Studentenverband NZS mit. Der Verband ruft zum Besatzungsstreik an allen polnischen Hochschulen auf. Biernacki ist mit der Kamera in Danzig dabei, als Studierende 1981 die geisteswissenschaftliche Fakultät besetzen. Sie richten Schlaflager ein, hängen Banner mit Protestbotschaften auf, fordern demokratische Strukturen an Universitäten und Redefreiheit. Als Berufsfotograf und Filmemacher dokumentiert Biernacki später weiter polnische Zeitgeschichte.
Jerzy Kośnik wird 1950 in Warschau geboren. Im Alter von 17 Jahren entdeckt er die Fotografie für sich. Er studiert Soziologie in Warschau und dokumentiert dort schon die Studierendenproteste von 1968. Über viele Jahre hinweg begleitet er die Ereignisse rund um Solidarność, auch noch nach Ausrufung des Kriegsrechts, als viele Fotografen sich aus Angst vor der Staatsmacht zurückziehen. Schon im Herbst 1980 gründet sich der Unabhängige Studentenverband NZS, um sich für die Demokratisierung der Universitäten zu engagieren und die Aktivisten der Solidarność zu unterstützen. In Łódź und anderen Städten ist Kośnik 1981 dabei, als Studierende Universitäten besetzen. Im Februar erreichen sie die offizielle Registrierung des Verbandes. Ein knappes Jahr später wird er im Zuge der Einführung des Kriegsrechts wieder verboten. Die Atmosphäre in den besetzten Universitätsgebäuden sei die eines Happenings gewesen, erinnert sich Kośnik. Mit dem Blick des Soziologen beobachtet er alles durch die Kamera. Er hält die intimen Details des Streik-Alltags fest: die Schlaflager, das Essen, mit Slogans bemalte Tafeln.
„Hungermärsche in polnischen Städten, Plakate mit der Aufschrift ‚Wir haben Hunger’, Kürzung der ohnehin knappen Fleischrationen, leere Regale in den Geschäften, lange Käuferschlangen dort, wo es gelegentlich etwas gibt – die polnische Wirtschaftskrise verschärft sich immer mehr,“ schreibt die deutsche Wochenzeitung „Die Zeit“ im Juli 1981. Frauen und Kinder protestieren in polnischen Städten, um auf die desolate Versorgungslage aufmerksam zu machen. Jerzy Kośnik fängt in seinen Fotografien nicht nur die Frustration der Menschen ein, sondern vor allem auch das aus den Protesten erwachsende Gemeinschaftsgefühl. Es sei ein ganz neues Selbstbewusstsein entstanden, erinnert sich der Fotograf.
Als Reporter für ein polnisches Filmmagazin reist Jerzy Kośnik 1981 nach Cannes, wo Regisseur Andrzej Wajda „Der Mann aus Eisen“ vorstellt, einen systemkritischen Film über einen Werftarbeiter aus Danzig, in dem sogar die Helden des Streiks, Lech Wałęsa und Anna Walentynowicz einen Auftritt haben. In Cannes gewinnt er die Goldene Palme. Bei einer Pressekonferenz lernt Kośnik den Schauspieler Jack Nicholson kennen. Der stellt gemeinsam mit Filmpartnerin Jessica Lange den Film „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ vor. Er fragt Nicholson, ob dieser Solidarność unterstütze. Der bejaht spontan und Kośnik überreicht ihm einen Button mit dem Logo der Gewerkschaft, den Nicholson sich gleich ansteckt. Er lädt den Fotografen aus Polen zu einem Spaziergang ein. Dabei entstehen etwa Fotos, auf denen Nicholson mit einigen Paparazzi herum albert.
Nachdem das Kriegsrecht am 13. Dezember 1981 ausgerufen wurde, übernimmt das Militär die Macht, die Gewerkschaft wird verboten, Oppositionelle interniert. Die Büros der Solidarność werden durchsucht und verwüstet. Jerzy Kośnik kann in den Solidarność-Büros in Warschau noch Bilder machen, bevor die Umgebung abgesperrt und kontrolliert wird.
Magdalena Sorby (geb. Wójcik) wird 1951 in Polen geboren und lebt bis zu ihrem Tod 1993 in Norwegen, wo sie nach Ausrufung des Kriegsrechts hinkommt und ihren künftigen Ehemann kennenlernt. Sie ist ab 1980 Übersetzerin bei der NSZZ Solidarność, arbeitet eng mit Lech Wałęsa zusammen und baut später das internationale Büro der Gewerkschaft in Brüssel mit auf. Im Mai 1981 ist sie selbst Teil einer Delegation der Solidarność, die auf Einladung zweier japanischer Gewerkschaften die Städte Osaka, Kobe, Kyoto und Nagasaki besucht. Dabei entstehen private Aufnahmen, die sie zur Erinnerung in ein Fotoalbum klebt. Es kommt zusammen mit weiteren Fotografien aus ihrem Privatarchiv in die Sammlung des ECS. Magdalena Sorby ist auf allen hier gezeigten Fotografien zu sehen. Wer die Bilder gemacht hat, ist nicht bekannt.
Zygmunt Malinowski wird 1947 in Polen geboren. Er kommt schon als junger Mann nach New York, studiert dort an der Parsons School of Design & New School for Social Research und wird Fotograf. Nachdem das Kriegsrecht ausgerufen ist und Tausende Mitglieder der Gewerkschaft verhaftet worden sind, gehen Unterstützer der Solidarność in Städten wie Paris, London, Rom, Tokio, Chicago und New York auf die Straße, um gegen das Kriegsrecht in Polen und den Einfluss der Sowjetunion zu demonstrieren. Malinowski dokumentiert Anfang der 1980er Jahre die Demonstrationen in New York. Mit der Expat-Gemeinschaft protestieren führende Politiker, zum Beispiel der Bürgermeister der Stadt, Ed Koch, ein Kind polnischer Einwanderer. Alle habe das Gefühl vereint, etwas für die Menschen in Polen tun zu wollen, sagt Malinowski: „Die Hoffnung darauf, dass sich in Polen wirklich etwas verändern könnte, hat uns Kraft gegeben. Es entwickelte sich eine sehr aktive Community in New York. Musiker gaben Konzerte, Künstler gestalteten Plakate für die Demonstrationen. Als ich das Foto der Frau machte, die das Plakat mit der Aufschrift ‚Poland Today’ hielt, hob ein Protestierender hinter ihr das mit der Aufschrift ‚Help’ hoch. Das ergab ein einmaliges Motiv. Mich erinnert es an Delacroix’ Gemälde ‚Die Freiheit führt das Volk’, eine Darstellung der Französischen Revolution, bei der eine Frau die französische Fahne schwenkt.“
Hans-Olav Forsang wird 1955 in Ankenes (Norwegen) geboren. Er studiert Fotografie in England und Schweden, wird Bildreporter und Bildredakteur. 1984 gewinnt er einen World Press Photo-Award. Im Oktober 1983 ist er im Auftrag eines Magazins in Danzig. An dem Tag, an dem er die Familie Lech Wałęsas besucht, wird bekannt, dass Wałęsa Gewinner des Friedensnobelpreises ist. Seine Ehefrau Danuta Wałęsa, die auf den Bildern zu sehen ist, wird ihn stellvertretend für ihren Ehemann in Oslo entgegennehmen, denn dieser befürchtet, nach einer Ausreise nicht mehr zurückkommen zu dürfen. Forsang erinnert sich: „Ich war dabei, als Danuta Wałęsa per Telefon die gute Nachricht aus Oslo erfuhr. Lech Wałęsa war mit einigen Freunden angeln. Schon vor seiner Rückkehr füllte sich die Wohnung mit immer mehr Menschen. Schließlich wurde er von einer Menschenmenge nachhause getragen. Das war ein ganz besonderer Tag.“
Bogusław Nieznalski wird 1948 in Sopot geboren. Von 1968 bis 1970 studiert er Maschinenbau an der Technischen Universität in Danzig. Während der ersten Streikwelle 1970 hat er keine Kamera. Er fühlt sich machtlos, weil er die Ereignisse nicht dokumentieren kann. Schließlich besorgt er sich eine, bringt sich das Fotografieren selbst bei und entwickelt die Bilder zuhause in seiner Wohnung. Als Fotoreporter hält er den Streik von 1980 und auch die Ereignisse der kommenden Jahre fest, etwa die Proteste auf dem Gelände der Danziger Werft im Sommer 1988. Junge Werftarbeiter vertreiben sich die Zeit während des Streiks, indem sie aus Styropor die Panzerwagen der „ZOMO“, einer schwer bewaffneten Einheit der Miliz, nachbauen.
Under the Patronage of the President of the Republic of Poland—Bronisław Komorowski
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