Gerissenes Design
Diamantriss-Dekore zählen sicher zu den elegantesten Verzierungen, die je auf Glas verwendet wurden. Ihren Zauber entfalten sie aus der Nähe: In atemberaubenden Details ranken sich Pflanzen über die Gefäßoberfläche oder sorglos heitere Engel prosten einander zu.
Begleitet uns auf eine Reise durch ein besonderes Kapitel der Glas-Geschichte!
Kelch mit Parkansicht des Landgutes „Leeuwenberg“Landesmuseum Württemberg
Gerissenes Design
Seit der Renaissance schmückten Adel und wohlhabende Bürger*innen ihre Wohnräume mit Diamantriss-Gläsern. Glas an sich war purer Luxus und nichts für jeden Geldbeutel: Wegen ihrer Zerbrechlichkeit mussten Glas-Gegenstände häufig ersetzt werden.
Pokale wie dieser wurden in den Kunstsammlungen ihrer Besitzer*innen ausgestellt, wenn sie nicht beim Festmahl verwendet wurden: Sie standen häufig zusammen mit anderen Gläsern und kostbaren Gefäßen auf einem eigenen Tisch, der Kredenz. Für einen Toast oder ein Trinkritual wurden sie den Speisenden von einem Diener gereicht.
Wie geht Diamantriss?
Zum „Diamantreißen“ braucht man einen Griffel mit einer sehr harten Spitze aus den Mineralien Diamant oder Korund. Mit diesem Stift werden Motive in das Glas geritzt. Dabei können allerfeinste Details wie die Saiten einer Harfe oder die einzelnen Haare einer Löwenmähne dargestellt werden.
Pokal mit Darstellung einer Ballonfahrt (nach 1783)Landesmuseum Württemberg
Eine Variante ist das sogenannte Diamantstippen: Hier werden mithilfe des Diamant-Griffels unterschiedlich tiefe Punkte gesetzt, die zusammen ein Motiv ergeben.
So entstehen Kunstwerke von erstaunlicher Dreidimensionalität: Die Raffungen eines Gewandes oder die Hülle eines Heißluftballons können so hauchzart und doch realistisch dargestellt werden.
Die Anfänge
Seit dem Mittelalter wurde in Venedig – genauer gesagt auf der Insel Murano – besonders reines und qualitätvolles Glas hergestellt. 1535 beantragte Vincenzo di Angelo da Gallo (Lebensdaten unbekannt) hier ein Privileg für die Diamantriss-Technik. Obwohl er damit Exklusiv-Rechte erhielt, verbreitete sich der beliebte Diamantriss auf ganz Murano und darüber hinaus.
Dieser große Schau-Teller ist ein beeindruckendes Beispiel für den venezianischen Diamantriss des 16. Jahrhunderts.
Venedig in aller Munde
Auch außerhalb Italiens war venezianische Glaskunst gefragt. Da Venedig mit seinem Luxusglas viel Geld verdiente, drohte die Republik seinen Glasmachern mit harten Strafen bei Auswanderung oder Geheimnisverrat. Dennoch suchten einige mit einer eigenen Glashütte ihr Glück in der Ferne.
Elegante Flügelgläser, deren Schäfte aus filigranen Fäden in Form von Flügeln, Schlangen oder Vögeln gebildet wurden, waren Kassenschlager der venezianischen Glasproduktion. Auch sie wurden jetzt nördlich der Alpen hergestellt.
Herstellung eines Flügelglases (2007)Originalquelle: The Corning Museum of Glass
Herstellung eines Flügelglases
Amateurhaft?
Im 17. Jahrhundert wurde das eigenhändige Verzieren von Gläsern in Diamantriss-Technik unter wohlhabenden Bürger*innen in den Niederlanden zur Mode. Obwohl von künstlerischen Laien gefertigt, können sich die Ergebnisse dieses Trends sehen lassen: Vermögende Händler, Kaufmannstöchter oder auch Schreibmeister wie Bastiaan Boers (1650–1713) veredelten Gläser mit kalligraphischen Trinksprüchen, Bibelversen oder Blüten und Insekten. Dieses Römer-Glas trägt die Inschrift: „Heden vrolyk morgen Sorgen“ – „Heute fröhlich, morgen Sorgen“.
Mit Schwung!
Die Ästhetik des geschriebenen Wortes wurde immer wieder in der Kunst aufgegriffen. Kalligraphische Bilder wurden von Schreibmeistern, aber auch von Quereinsteiger*innen angefertigt: Johann Michael Püchler der Jüngere (1679–1709) stammte aus einer Bader-Familie, in der viele neben ihrem Beruf Kunstwerke in Kleinschrift, sogenannte Mikrographien, anfertigten.
Auf den Punkt genau
Neben Diamantriss-Verzierungen durch Laien kam in den Niederlanden im frühen 18. Jahrhundert das Diamantstippen auf. Entwickelt wurde die Technik von Frans Greenwood (1680–1763), einem in Rotterdam geborenen Finanzbeamten mit englischen Wurzeln. Greenwood gab das Diamantstippen an seine Schüler weiter: Einer von ihnen, der Maler und Radierer Aert Schouman (1710–1792), fertigte dieses Portrait des jungen Erbstatthalters der Niederlande, Wilhelm V. von Oranien (1748–1806).
Motive aus Holland, Glas aus England
Das Diamantstippen erforderte ein möglichst „weiches“ und reines Glas: Die Oberfläche musste leicht mit der Diamant-Spitze zu bearbeiten sein. Die Niederländer importierten daher besonders weiches Glas aus England, um es mit eigenen Motiven zu verzieren. Dabei traf englisches Glas – zum Beispiel schlanke Kelche mit Facettenschliff – den Geschmack der Niederländer: Dieses Kelchglas mit facettiertem Stiel wurde in England oder den Niederlanden gefertigt.
Auf der gerundeten Kuppa ist das diamantgestippte Portrait des Bürgermeisters von Amsterdam Egbert de Vry Temminck (1700–1785) zu sehen.
Meister der Punkte und Putten
Einer der berühmtesten Künstler im Bereich Diamantstippen ist David Wolff (1732–1798), der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Den Haag wirkte. Neben Staatsmännern und Personen des öffentlichen Lebens verzierte er Gläser mit Engeln – auch Putten genannt – im Stil des Rokokos: Sie stellen häufig Allegorien auf Tugenden wie Treue und Freundschaft dar und wurden aus diesem Grund vermutlich gern verschenkt.
Diamantriss-Gläser von David Wolff (2022)Landesmuseum Württemberg
Diamantriss-Gläser von David Wolff
A Sunday on La Grande Jatte (1884-1886) von Georges SeuratThe Art Institute of Chicago
Die diamantgestippten Gläser aus den Niederlanden erinnern an einen Stil, der 100 Jahre nach David Wolff in der Malerei beliebt wurde:
Der Pointillismus.
Auch hier werden Motive mithilfe kleiner Punkte gebildet.
Ein großer Unterschied zwischen Diamantstippen und Pointillismus ist jedoch die Betrachtungsweise: Während diamantgestippte Gläser mikrografische Kunstwerke sind und von Nahem betrachtet werden, zielen die oft übergroßen Werke des Pointillismus auf Fernwirkung.
Darüber hinaus ist Farbe ein wichtiges, konzeptionelles Element dieser Stilrichtung, das dem Diamantstippen völlig fehlt.
Punkte und Licht
Was Pointillismus und Diamantstippen miteinander verbindet, ist die Bedeutung von Licht für beide Kunstformen: Schwarzweiße pointillistische Grafiken zeigen, dass man Dreidimensionalität ganz ohne Farben als Spiel von Licht und Schatten darstellen kann.
Diamantgestippte Bilder werden vom Licht belebt, das durch das Glas schimmert: Mit jedem Reflex wirkt das Motiv lebendiger und strahlender als zuvor.
Der Blick auf den Horizont
Diamantriss-Gläser sind von einzigartiger Schönheit. Sie waren Status-Symbole und Zeugnisse enormer Kunstfertigkeit. Ihre Geschichte gibt uns außerdem Einblicke in wirtschaftliche Beziehungen und Trends seit dem 16. Jahrhundert.
Kommt und besucht unsere Diamantriss-Gläser doch in der Ausstellung „Glas aus vier Jahrtausenden“!
Glas aus vier Jahrtausenden (https://www.youtube.com/watch?v=JZ6IquVFJ2k)Landesmuseum Württemberg
Glas aus vier Jahrtausenden
Konzept/Text/ englische Übersetzung: Judith Thomann
Redaktion/Umsetzung: Anna Gnyp
Englisches Lektorat: Ryan Hampton
Fotos und Film: Hendrik Zwietasch, Jonathan Leliveldt
Rechte Video Flügelglas: The Corning Museum of Glass, cmog.org, https://www.youtube.com/user/corningmuseumofglass