Arno Lustiger, Deutschland, Sommer 1945Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
„Nutze den Tag – und die Nacht!“ Das war Arno Lustigers Lebensmotto. Er baute nach 1945 die Jüdische Gemeinde Frankfurt mit auf, war Modeunternehmer, streitbarer Publizist und Zeitzeuge der nationalsozialistischen Verbrechen.
weiterleben
Am 8. Mai 1945 feierte Arno Lustiger mit Kameraden der US-Army das Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. Kurz zuvor war er von einem Todesmarsch geflohen und gerettet worden. Da er Polnisch, Englisch und Deutsch sprach, half er, Kriegsgefangene zu vernehmen.
Arno Lustiger in Hettstedt mit seinen Kameraden der US-Armee Deutschland, Mai 1945Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
„Dann bekam ich eine Uniform und … eine großkalibrige Waffe. Man kann sich gar nicht vorstellen, was für ein Gefühl das war … Auf einmal bin ich ein freier Mensch und kann mich auch verteidigen.”
Arno Lustiger in der Sendung „Alpha-Forum” am 13. August 1999.
Arno Lustiger (rechts) in amerikanischer Uniform vor dem Mahnmal für die jüdischen Opfer des Naziregimes im DP-Camp Frankfurt-Zeilsheim (Westdeutschland), undatiertJewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Im Herbst 1945 kam er mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern, die er in Polen wiedergefunden hatte, im Displaced Persons (DP) Camp Frankfurt-Zeilsheim an. Es mangelte an alltäglichen Dingen, wie Geschirr, Besteck und Kleidung. Deshalb trug er weiterhin seine Uniform.
Arno Lustiger mit Freunden während seiner Zeit im DP-Camp Frankfurt-Zeilsheim, undatiertJewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Als Kleiderspenden verteilt wurden, war er enttäuscht, wie er sich erinnerte: „Alte Klamotten – mehr hatte die große jüdische Welt nicht für uns übrig.“ Kino, Theater, Mode, Ausflüge – all das wollten er und seine Freunde nach Jahren in nationalsozialistischen Lagern nachholen.
Presseausweis von Arno Lustiger (1924-2012) der Wochenzeitung „Unterwegs“ aus dem DP-Lager Frankfurt-Zeilsheim, 1947Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Ab 1947 war Arno Lustiger als Korrespondent für die Wochenzeitung "Unterwegs" tätig.
Seite 4 der Zeitung „Unterwegs“ (vorher: Undzer mut), 13. Juni 1947Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Im Titel der jiddischsprachigen Zeitung „Unterwegs“ drückte sich das Lebensgefühl der DPs aus, die auf gepackten Koffern saßen und auf einen Neuanfang in Übersee hofften. Die Zeitung berichtete über das kulturelle Leben im DP-Camp und über internationale Geschehnisse.
Diese Ausgabe entstand unter dem Eindruck des Kalten Kriegs und des atomaren Wettrüstens. Da es kaum hebräische Lettern gab, wurde die Innenseite in lateinischen Buchstaben gesetzt. Arno Lustiger stellte aus Artikeln englischsprachiger Zeitungen einen Pressespiegel zusammen.
aufbauen
1949 lernte Arno Lustiger einen deutschen Fabrikanten für Damenmode aus Paris kennen. Er war wie er ein Verfolgter des NS-Regimes und suchte einen Geschäftspartner in Deutschland. Im Oktober 1949 gründeten sie "arno lustiger+co" in Frankfurt.
Stofflabel für „Micheline Couture PARIS”, eine Marke von „arno lustiger+co“Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Um 1953 gründeten sie das Label „Micheline Couture Paris” für hochwertige und elegante Damenmode. Sie wollten „Frankfurter Gediegenheit und Pariser Chic” miteinander verbinden. Inspirationen fanden Arno Lustiger und sein Geschäftspartner auf den Modeschauen in Paris.
Arno Lustiger mit seinen Angestellten auf Betriebsausflug in Paris, undatiert (1960er Jahre)Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Als „kometenhaft“ beschrieb die Fachzeitschrift „textil-report“ Arno Lustigers Erfolgsgeschichte im August 1962. Allein im Frankfurter Firmensitz in der Kaiserstraße 6 beschäftigte er 25 Angestellte. Am Berliner Kurfürstendamm hatte er eine weitere Filiale.
Messestand „arno lustiger+co“, Ort und Datum unbekannt (vermutlich 1960er Jahre)Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Arno Lustiger präsentierte seine Mode jährlich auf sechs Messen in München, Berlin und Düsseldorf. Die Kollektionen verkaufte er an Einzelhändler im In- und Ausland. „arno lustiger+co“ stellte auch Konfektionsmode für Kunden wie das Bonner Modehaus „Paul Kemps und Söhne“ her.
Arno Lustiger mit seiner Familie bei einem Ausflug, undatiert (vmtl. 1960er Jahre)Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Mit dem Erfolg kam der Wohlstand. 1957 kaufte er einen Mercedes und schwärmte in einem Brief an seine Frau Drora, geborene Jeger (1936-2020): „Es ist ein wunderschönes Auto, oben blau, unten hellgrau, das beste Auto in Europa, das Beste ist eben gut genug für Frau Lustiger.“
Arno Lustiger hatte Drora bei der Makkabiade (jüdische Weltsportspiele) 1957 in Israel kennen gelernt, verliebte sich Hals über Kopf und heiratete sie sechs Wochen später. Beide hatten polnische Wurzeln: Ihre Eltern zählten zur zionistischen Pionierbewegung in Palästina.
mitgestalten
Arno Lustiger wollte jüdisches Leben mit aufbauen – in Deutschland wie in Israel. Er engagierte sich in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und wurde 1958 in den Vorstand gewählt. Damals begann er, sich meist nächtelang mit der jüdischen Kultur und Geschichte zu beschäftigen.
Samuel Wodnitzky (1895-1980), Straßenszene im Schtetl Kuzmir (Kazimierz), Öl auf Karton, 1934Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Es war eine Suche nach den Spuren der untergegangenen Welt seiner Kindheit im oberschlesischen Będzin (Polen). Er sammelte ostjüdische Sprichwörter, Volkslieder, Gedichte und Gemälde wie diese Alltagsszene im Schtetl Kuzmir des polnischen Künstlers Samuel Wodnitzky (1895-1980).
Plakat zu Arno Lustigers (1924-2012) Vortrag über die Geschichte der Zionistischen Bewegung, gehalten am 23. November 1967 vmtl. an der Frankfurter Goethe-UniversitätJewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
1954 trat Arno Lustiger der „Zionistischen Organisation in Deutschland“ (ZOD) bei und war von 1965 bis 1971 Vorsitzender. Als Reaktion auf pro-palästinensische Initiativen im universitären Umfeld baute er in Frankfurt die Deutsch-Israelische Studiengruppe auf und hielt Vorträge.
Records and cassettes from the music collection of Arno Lustiger (1924-2012)Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Seit seiner Jugend war er mit dem Liedgut der sozialistischen und zionistischen Bewegung vertraut und interessierte sich für Widerstandslieder. Er liebte Folklore wie Klezmer, sephardische und spanische Musik. Wolf Biermann sagte über ihn, er sei ein „lebensstarker Genußmensch“.
Nicht mehr auf gepackten Koffern. Jüdisches Leben in Frankfurt, Eine Reportage des HR, 24.9.1985Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
aufklären
1982 erschien Raul Hilbergs Studie über die Vernichtung der europäischen Juden auf Deutsch. Gegen seine These, die Juden hätten sich nicht gewehrt, bezog Arno Lustiger öffentlich Position. Jüdischen Widerstand gegen den Faschismus sichtbar zu machen, wurde seine Lebensaufgabe.
1984, nach einem Herzinfarkt, begann er sein erstes Buchprojekt über Juden im Spanischen Bürgerkrieg: Er verkaufte sein Unternehmen, lernte Spanisch, recherchierte weltweit und interviewte jüdische Spanienkämpfer. Mit Henri Szulevic und vielen anderen freundete er sich an.
Nach dem Erfolg von „Shalom Libertad!“ (1989), das auch in Spanien und Frankreich erschien, arbeitete er an einer Gesamtdarstellung des jüdischen Widerstands: Diese zeigt neben dem bewaffneten Kampf auf, dass Jüdinnen und Juden sich auf vielfältige Weise widersetzt hatten.
Jizchak Katzenelson, Dos lied vunem ojsgehargetn jidischn volk. Erstausgabe mit Einführung und Anmerkungen von Nathan Eck, Paris, Mai 1945Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
So beschäftigte er sich mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto und las dazu Jizchak Katzenelsons (1886-1944) Dichtung ‘Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk’. Er besaß ein Exemplar der ersten Auflage in Jiddisch, die 1945 in Paris erschienen war.
Arno Lustiger (1924-2012) an Wolf Biermann (geb. 1936) über das Poem von Jitzchak Katzenelson, Brief vom 24. März 1993Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Über zwei Jahre übersetzte er mit Wolf Biermann Katzenelsons Gedicht und diskutierte mit ihm die vieldeutigen jiddischen Begriffe. Hier wies er ihn auf die religiösen Anspielungen im 15. Gesang hin. Diese Passage trug Wolf Biermann in der Gedenkstunde im Bundestag 2005 vor.
Wolf Biermann (geb. 1936) trägt Jitzchak Katzenelsons Gedicht im Deutschen Bundestag vor (2005)Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
erinnern
1961 sagte Arno Lustiger als Zeuge zu den Verbrechen im KZ Auschwitz-Blechhammer aus. Damals bereitete die Frankfurter Staatsanwaltschaft die Auschwitz-Prozesse vor. Die Verhandlungen selbst verfolgte er als Zuhörer. Ab 1985 sprach er dann auch öffentlich als Zeitzeuge.
Brief von Arno Lustiger (1924-2012) an Ulrich Schwab (geb. 1941), Frankfurt 9. November 1981Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
Er schrieb auch Brandbriefe an Führungspersönlichkeiten von Stadt und Kultur, wie etwa an Ulrich Schwab, den Intendanten der Alten Oper Frankfurt. Denn nach der Wiedereröffnung im August 1981 gäbe es dort „überhaupt kein Zeichen des Wirkens jüdischer Künstler und Mäzene".
(v.l.n.r.) Kardinal Jean-Marie Lustiger (1926-2007), Adam Stefan Śmigielski, Bischof von Sosnowiec (1933-2008), Arno Lustiger (1924-2012), der Bürgermeister und Magistrat von Będzin, der israelische Botschafter und eine Delegation emigrierter Będziner Juden bei der Gedenkveranstaltung am Ort der zerstörten Hauptsynagoge in Będzin 1993Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
1992 reiste er mit seinem Cousin Kardinal Jean-Marie Lustiger nach Będzin. Vor Ort erinnerte nichts an das einstige Zentrum jüdischen Lebens in Westpolen. Nie wieder wollten sie dorthin reisen. Doch 1993 lud die Stadt sie ein, einen Gedenkstein für die Synagoge einzuweihen.
Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (Bundesverdienstkreuz) mit Schatulle und zwei Bandschnallen, verliehen an Arno Lustiger (1924-2012) im Jahr 2009Jewish Museum Frankfurt / Museum Judengasse
2009 erhielt Arno Lustiger das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Als auch die jüdische Anti-Zionistin Felicia Langer den Orden bekam, wollte er seine Auszeichnung zurückzugeben. Wolf Biermann rief ihn öffentlich auf, sein „Brustblechle“ zu behalten. Und das tat er auch.
Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt
Konzeption, historische Recherche, Texte und Bild-Redaktion: Ann-Kathrin Rahlwes unter Mitarbeit von Michael Rahlwes und Ellen Rinner
Projektleitung: Dr. Eva Atlan
Kurator: Dr. Friedrich Tietjen
Wissenschaftliche Beratung: Valentino Massoglio, Erik Riedel, Sara Soussan
Grobkonzept: Dr. Franziska Krah und Sebastian Müller
Online-Redaktion: Korbinian Böck
Fotos: Herbert Fischer, Frankfurt am Main.
Videos: Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus mit Arno Lustiger und Wolf Biermann. https://dbtg.tv/cvid/1505542
Nicht mehr auf gepackten Koffern. Jüdisches Leben in Frankfurt, Eine Reportage des HR, 24.9.1985
Die Ausstellung wurde erarbeitet mit Unterstützung der Stiftung Polytechnische Gesellschaft und der Schleicher-Stiftung.
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