Nachbar Kernkraftwerk

Vom Dorfleben vor und nach dem Atomausstieg

Standorte der deutschen Atomkraftwerke (15.04.2023)Originalquelle: Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz

Deutschland schaltet ab

Die Kernkraft galt Anfang der 1960er-Jahre als die Lösung für eine saubere und effektive Stromerzeugung. Das änderte sich mit dem Bewusstsein für die Risiken und die ungeklärte Frage der Entsorgung des Atommülls. Nach langjährigen politischen Debatten führte das Reaktorunglück von Fukushima im Jahr 2011 zur Entscheidung für die endgültige Abschaltung aller deutschen Reaktoren bis zum 15. April 2023 – so auch in der südwestdeutschen Gemeinde Neckarwestheim, die ein Kernkraftwerk als Nachbarn hat.

Das Kernkraftwerk am Tag vor der Abschaltung (14.04.2023) von Hans-Joachim ArnoldLandesmuseum Württemberg

Wie erlebt man dieses „Ende einer Ära“?

Das Gemeinschaftskernkraftwerk Neckar (GKN) liegt zehn Kilometer südlich von Heilbronn. Es ging 1976 mit einem ersten und 1989 mit einem zweiten Reaktor ans Netz. 

Das Kraftwerk liegt auf der Gemarkung von zwei Dörfern: Neckarwestheim (ca. 4400 Einwohner*innen) und Gemmrigheim (ca. 4800 Einwohner*innen).

Angeln in Nachbarschaft zum Kernkraftwerk (1982)Originalquelle: Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg

In Nachbarschaft zum Kernkraftwerk

„Grüß Gott, Nachbarn“ – so wird die Leserschaft in der ersten Ausgabe der Zeitungsbeilage „Nachbar GKN“ vom März 1978 begrüßt. Nachbarschaft heißt, sich zu kennen, sich zu vertrauen und auch Verantwortung füreinander zu übernehmen. Nachbarschaft geht aber auch mit gegenseitiger Kontrolle und Verpflichtungen einher. Was bedeutet das für die Gemeinde?

Ortsansicht von Neckarwestheim (2020) von Kristof PoggelLandesmuseum Württemberg

Das „Atomdorf“ Neckarwestheim

Aufgrund der Nähe zum Kernkraftwerk wird Neckarwestheim in den Medien auch als „Atomdorf“ bezeichnet.

Das spiegelt sich in der Presseberichterstattung wider und inspirierte zu Romanen wie „Der Atomkrieg in Weihersbronn“ (1981) oder dem Dokumentarfilm „Das Atomdorf“ des SDR (1998).

Dieses Image überträgt sich vor allem auf Neckarwestheim: Dort würden „Atomwein“ und „Atomkartoffeln“ angebaut. Gemmrigheim hingegen findet in den Medien eher wenig Erwähnung.

Titelbild Spiegel nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl, 1986 (12.05.1986)Originalquelle: DER SPIEGEL

Angst vor Kernkraft – Angst ohne Kernkraft

Angst ist das vorherrschende Gefühl, wenn es in Deutschland um die Atomkraft geht. Viele Bewohner*innen Neckarwestheims hingegen sorgen sich im Zuge des Atomausstiegs um die Stabilität der Stromversorgung. Einige bereiten sich mit Notstromaggregaten und Wasserkanistern etwa auf einen wochenlangen Stromausfall – einen sogenannten Blackout – vor.

Protestzug durch Neckarwestheim, 1979 (1979)Originalquelle: Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg

Lang anhaltender Protest

Seit den Reaktorunfällen in Tschernobyl und Fukushima überwiegt die Angst vor der Kernkraft. Sie findet ihren Ausdruck in den Protesten gegen das Kraftwerk auch vor Ort in Neckarwestheim. Schon in den 1970er Jahren sind aus den umliegenden Gemeinden Gegenstimmen zu vernehmen.

Fotoaufsteller auf dem Abschaltfest (15.04.2023) von Karin BürkertLandesmuseum Württemberg

Protestierende skandieren „Abschalten“ auf dem Abschaltfest 2023
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Abschalten! Aber wohin mit dem Atommüll?

Der Nachbar wurde also schon früh von Kernkraftgegner*innen kritisiert, die dessen Abschaltung forderten. Nach der Abschaltung hinterlässt das Kernkraftwerk der Gemeinde ein Zwischenlager für Atommüll. Doch inwiefern profitierte Neckarwestheim eigentlich von seinem Nachbarn?

Ratssaal in Neckarwestheim (19.05.2014) von Nikolay KazakovLandesmuseum Württemberg

Finanzielle Möglichkeiten

Das Kernkraftwerk brachte der Gemeindekasse hohe Gewerbesteuereinnahmen. Sie ermöglichten eine infrastrukturelle Entwicklung des Dorfes. Der futuristisch wirkende Ratssaal ist ein eindrückliches Beispiel für den Wohlstand der Gemeinde. Viele der Bewohner*innen sind stolz darauf, was mit dem Geld zu ihrem Wohl verwirklicht wurde.

Reblandhalle von außen (07.08.2012) von Dietmar StraußLandesmuseum Württemberg

Baulicher Wandel

Neckarwestheim konnte mit den finanziellen Möglichkeiten viele Bauprojekte umsetzen. Es entstanden moderne Gebäude wie Kindertagesstätten, das Jugendhaus oder die Grundschule. Besonders kostspielig war die „Reblandhalle“. Im Landkreis Heilbronn ist sie die größte Veranstaltungshalle.

Reblandhalle von innen (07.08.2012) von Dietmar StraußLandesmuseum Württemberg

Die damit verbundenen hohen Personal- und Wartungskosten müssen in Zukunft ohne die zusätzlichen Einnahmen durch das Kraftwerk gestemmt werden. In anderen Bereichen ist der Atomausstieg jetzt schon spürbar. Bereits die Abschaltung von Block I im Jahr 2011 hatte wirtschaftliche Auswirkungen.

Sorgen wegen der Abschaltung von Block I (2011) (15.04.2011)Originalquelle: AFP Deutschland

Sorgen wegen der Abschaltung von Block I (2011)

In einem Interview mit einer Hotelinhaberin und dem Bürgermeister werden Sorgen um Gewinnverlust und Verlust von Arbeitsplätzen deutlich.

Gaststätten in Neckarwestheim (Februar 2024) von Christina MichelsLandesmuseum Württemberg

Abhängigkeit der Gaststätten

Die Gaststätten in Neckarwestheim profitierten vom Kraftwerk. Vor allem während der jährlichen Revisionen waren Hunderte bis Tausende zusätzliche Arbeiter*innen im Kraftwerk, sodass die Nachfrage stieg. Als Block I abgeschaltet wurde, brachen die Gästezahlen stark ein.

Aber auch die Folgen der Pandemie, die Preissteigerungen und der Fachkräftemangel sind Herausforderungen, die viele im ländlichen Raum zum Aufgeben bewegen. Doch die Nachbarschaftsbeziehung war nicht nur wirtschaftlich geprägt, sondern auch vom sozialen Austausch.

Kinderzeichnung des Kernkraftwerks (Februar 2024)Landesmuseum Württemberg

Aufwachsen in Nachbarschaft zum Kernkraftwerk

Von klein auf lernen Menschen in Neckarwestheim Dinge über das Kernkraftwerk. Die technischen Unterschiede zwischen Tschernobyl und Neckarwestheim sind vielen geläufig. Daher schätzen sie Risiken als eher gering ein und machen sich weniger Sorgen. Manche Bewohner*innen nennen das Kernkraftwerk auch verniedlichend „Dampfkessel“. Den Mitarbeiter*innen des Kraftwerks vertrauen die Menschen.

Dampfwolke (15.03.2023) von Romina NiederhausenLandesmuseum Württemberg

Sicherheit durch Wissen

Viele Einwohner*innen sind persönlich bekannt mit Mitarbeiter*innen des Kernkraftwerks und beziehen darüber ihre Informationen. Zudem hat sich das Kernkraftwerk schon seit der Inbetriebnahme an die Öffentlichkeit gewandt und die Dorfbewohnerschaft über die Arbeitsabläufe aufgeklärt. 

Einer der Bewohner findet: „Also, ich habe mich quasi immer darauf verlassen, dass in Deutschland Dinge funktionieren und gut überwacht werden und ein Tsunami wie in Fukushima in Neckarwestheim eher nicht zu erwarten war.“

Das Kernkraftwerk in Revision, 1986 (1986)Originalquelle: Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg

Gefühl für Technik

Die Kernkraftarbeiter*innen dienen im Alltag als Expert*innen. Sie wissen über die Maschine Bescheid, entwickeln ein Gefühl für die Technik und greifen dabei auf alle ihre Sinne zurück. 

Ein Mitarbeiter sagt über den Weg vom Eingang bis zu seinem Arbeitsplatz: „Sie machen die Tür auf und da läuft die Maschine. Dann hören Sie, Sie riechen, Sie fühlen die Feuchte. Sie merken Schwingungen. Schon an den Sachen merken Sie – bevor Sie überhaupt im Dienst sind: Oh. Die fahren Teillast. Und hier riecht es nach Hydrazin. Ist da was undicht?“

Bürgerversammlung zum Thema Kernkraft, 1979 (1979)Originalquelle: Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg

„Das GKN gehört zu uns!“

Wissen spielt im Nachbarschaftsverhältnis eine große Rolle. Die Bürger*innen forderten Informationen über die Abläufe und die Sicherheit im Kernkraftwerk wie hier bei einer Bürgerversammlung 1979. Dieses Wissen wurde über Generationen weitergegeben und hat sich im alltäglichen Austausch am Gartenzaun oder am Stammtisch verfestigt. Das heißt nicht, dass alle immer einer Meinung sind oder keine Zweifel bestehen. Aber grundlegend hat sich ein Selbstbild entwickelt, in dem das Kernkraftwerk im Laufe der Jahre zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Logo des Jugendhauses „Block 3” (15.07.2023) von Agnes DeinleinLandesmuseum Württemberg

Strahlendes Lachen

Menschen der Umgebung von Neckarwestheim machen Witze über radioaktive Strahlung, wie: ,,Ihr strahlt doch alle im Dunkeln!“ Die Neckarwestheimer*innen greifen diesen Humor auf. So wurde das Jugendhaus im Ort in Anlehnung an die beiden Reaktorblöcke des Kernkraftwerks „Block 3“ getauft. Früher gab es unter dem Rathaus sogar eine Kneipe namens ,,Uranium-Bar“. Das Kraftwerk ist Teil des Alltags der Menschen geworden.

Schachtel: Radioaktive Zahncreme „Doramad” (1940–1950)Landesmuseum Württemberg

Strahlendes Lachen

Die radioaktive Zahncreme „Doramad”, die 1940 auf den Markt kam, enthielt Thorium-X und versprach „strahlend weiße Zähne”. Nach den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki musste die Zahnpasta vom Markt genommen werden.

Das Logo des Jubiläums „900 Jahre Neckarwestheim" (2023)Landesmuseum Württemberg

900 Jahre Neckarwestheim

Das Logo des Jubiläums besteht aus einer stilisierten „900“ – die hintere Null zeigt ein Atommodell. Damit integriert die Gemeinde im Jahr der Abschaltung das Kernkraftwerk erstmalig in ihr Image. Energie wird dabei mit anderen Aspekten wie Geschichte und Natur gleichgesetzt. Dadurch möchte die Gemeinde auch zum Ausdruck bringen: Neckarwestheim ist mehr als ein „Atomdorf“.

Blick in das Zwischenlager, 2019 (07.08.2019) von Christopher MickOriginalquelle: BGZ Gesellschaft für Zwischenlagerung mbH

Was bleibt?

2006 wurde am Kraftwerk ein Zwischenlager für radioaktiven Müll in Betrieb genommen, das für eine Dauer von 40 Jahren genehmigt ist. Befürworter*innen und Gegner*innen der Atomkraft sind sich einig: Es muss eine Lösung für die Entsorgung des Mülls her. Der Rückbau des Kernkraftwerks wird noch etwa bis 2038 dauern.

Dampfwolke über Neckarwestheim am Abend (Februar 2014) von Michael KauffmannOriginalquelle: Wikimedia Commons

Erinnerungen an die Nachbarschaft zum Kernkraftwerk

Was bleibt, wenn das Kernkraftwerk rückgebaut wird? Oder ist es als Industriedenkmal schützenswert? Kann es zu einem Ort der Reflexion und der Bildung für eine nachhaltige und sichere Stromproduktion werden? Wird das Kernkraftwerk zum Teil des kollektiven Gedächtnisses in der Gemeinde? Drohen finanzieller Abstieg und Identitätskrise?

So dramatisch sehen die meisten Bürger*innen den Abschied nicht – aber die Dampfwolke als Orientierung und Symbol für ihre Heimat fehlt ihnen doch.

Buchcover „Alltag Konflikt Wandel” (2024) von Sigrid MillaLandesmuseum Württemberg

Zum Weiterlesen

Studierende der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen forschten drei Semester lang in Neckarwestheim und Umgebung. Die Forschungsergebnisse wurden in diesem Buch veröffentlicht: Karin Bürkert (Hg.): Alltag. Konflikt. Wandel. In Nachbarschaft zum Kernkraftwerk. Tübingen EKW-Verlag 2024.

Mitwirkende: Geschichte

Konzept/Text:  
Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft | Eberhard Karls Universität Tübingen:
Dr. Karin Bürkert
Johannes Alt
Agnes Deinlein
Nils Fink
Caroline Kunz
Christina Michels
Romina Niederhausen
Jessica Reichert

Landesstelle für Alltagskultur:
Sabine Zinn-Thomas und Angelika Merk
Museum für Alltagskultur: 
Markus Speidel

Redaktion & Umsetzung: Anna Gnyp (Digitale Museumspraxis & IT, Landesmuseum Württemberg)

Quelle: Alle Medien
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