Berlin, Stadt ohne Morgen

Berlins Selbstverständnis von gelebter Freiheit und die Abwesenheit der Sperrstunde

Clubcommission

Text: Sven von Thülen

Clubbing Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Berlin, Stadt ohne Morgen. Dreh- und Angelpunkt der globalisierten Clubkultur. Sehnsuchtsort der Unangepassten, Kreativen und Schlaflosen. Es gibt keine deutsche Stadt, deren Nachtleben so mit Bedeutung und Mythen aufgeladen worden ist. Vor allem in den dreißig Jahren nach dem Mauerfall.

Berlin hatte aber schon lange vorher einen Sonderstatus. Politisch, sozial und kulturell. Sie war schon immer Magnet und Fluchtpunkt für diejenigen, die provinziellen und kleinbürgerlichen Zwängen entkommen wollten. Oder der Bundeswehr. Ein Grundpfeiler des Berliner Selbstverständnisses von gelebter Freiheit ist die Abwesenheit der Sperrstunde.

Clubbing Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Am 21. Juni 1949, passend zur Sommersonnenwende, wurde im damaligen West-Berlin die Sperrstunde aufgehoben. Dass die überlieferten Umstände, die zur Abschaffung führten, mittlerweile auch zur Legende geronnen sind, ist da nur passend. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges herrschte ab 1945 in der in vier Sektoren aufgeteilten Stadt eine strenge nächtliche Ausgangssperre. Ursprünglich von den Sowjets in Ost-Berlin eingeführt, zog der Westteil der Stadt schnell nach. In den Jahren darauf lieferten sich Sowjets und West-Alliierte einen Wettkampf um die Sperrstunde und um den daraus entstandenen, sektorenübergreifenden Trinktourismus.

Dämmerung in Berlin Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Immer wenn im Ostteil der Stadt die Sperrzeit nach hinten verlegt wurde, und damit die Kneipen und Gaststätten dort länger auf hatten, zog der Westen kurz darauf nach. So ging das eine Weile, bis es Heinz Zellermeyer zu bunt wurde. Der Berliner Gastronom und Hotelier, der direkt nach dem Krieg die Gaststätten Innung in der zerbombten Stadt gegründet hatte, setzte sich für ein Ende der Sperrstunde in West-Berlin ein.

Nachdem er mit seinem Anliegen ein paar Mal gescheitert war, stattete er dem Kommandanten des US-amerikanischen Sektors, Frank L. Howley, mit einer Flasche Whiskey bewaffnet einen Besuch ab, um ihn davon zu überzeugen, dass das Abschaffen der Sperrstunde Berlin politisch und wirtschaftlich eine gute Idee sei.

Wie viel von dem Whiskey dabei tatsächlich getrunken wurde, ist nicht überliefert. Aber die Legende besagt, dass die Flasche fast leer war, als Howley endlich seine Zustimmung signalisierte. Die Sperrstunde wurde aufgehoben. Die Nächte wurden länger. Der Mythos von Berlin als Stadt, die niemals schläft, nahm in den Jahrzehnten darauf erste Formen an.

Morgendämmerung in Berlin Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Auf der anderen Seite der Mauer mussten Kneipen offiziell zwar noch um 24 Uhr (unter der Woche) beziehungsweise 1 Uhr (am Wochenende) schließen, Ausnahmegenehmigungen und so genannte Nachtdiskotheken sorgten aber dafür, dass auch im Ostteil bis in die frühen Morgenstunden getrunken und gefeiert werden konnte.

Durch den Fall der Mauer im November 1989, 40 Jahre nach Abschaffung der Sperrstunde, entstand in Berlin eine historisch und politisch einmalige Situation. Mal wieder. Im Ostteil der Stadt standen überall ungenutzte Flächen und Gebäude bereit, mit neuem Leben gefüllt zu werden. Für kurze Zeit verwandelte sich Ostberlin in eine Temporäre Autonome Zone. Alles schien möglich. Dass die Stadtverwaltung und Ämter nach dem Big Bang der Wende Jahre brauchten, um sich zu reorganisieren, spielte einer ganzen Generation von Kreativen, Visionären, Ravern und Künstlern in die Hände.

Nirgendwo lässt sich die Dynamik, die die Abwesenheit einer Sperrstunde entwickeln kann, deutlicher ablesen als in der Clubkultur, die seit Mauerfall den Puls der Stadt vorgibt. So konnte sich eine einmalige Club- und Kulturlandschaft entwickeln, die mehr denn je ein gewichtiger Teil von Berlins Identität geworden ist — und zur Stadtmarketing-Knetmasse. Mit einer Sperrstunde wäre all das nicht möglich geworden.

Morgendämmerung in Berlin Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Und trotzdem ist in den letzten Jahren die Diskussion um die Sperrstunde immer mal wieder aufgeflammt. Die Erfolgsgeschichte der Berliner Nachtökonomie hat auch ihre Schattenseiten. Die Zeit der unbegrenzten innerstädtischen Freiräume ist vorbei. 

Die Stadt wächst, der Immobilienmarkt ist aufgeheizt. Investoren- und Anwohnerinteressen, sowie gestiegener ökonomischer Druck und eine neue Regulierungswut der Ämter tun ein Übriges, um die Luft für Clubs dünner werden zu lassen. Manche Bezirksämter würden die Sperrstunde am liebsten zurück haben.

Morgendämmerung in Berlin Szene, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Es würde ihnen die Arbeit erleichtern. Statt sich die Mühe machen zu müssen, von Fall zu Fall zu entscheiden und gemeinsam mit Clubbetreibern und Anwohnern Lösungen zu entwickeln. Die Wiedereinführung einer Sperrstunde wäre ein weiterer Schritt in der Münchenerisierung der Stadt.

Filmplakat, Stadt ohne Morgen (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Die Uhr darf nicht zurückgedreht werden.

Stadt ohne Morgen Dokumentarfilm (2019) von Charlot van HeeswijkClubcommission

Quelle: Alle Medien
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