Nach dem Zweiten Weltkrieg erhält die westdeutsche Großstadt Düsseldorf ein neues Gesicht. Bereits Mitte der 1950er-Jahre entstehen moderne Hochhäuser, wo vor Kurzem noch Trümmer das Straßenbild beherrschten. Ein Motor des Wirtschaftswunders ist die Stahlindustrie, deren Verwaltung in Düsseldorf ansässig wird. Düsseldorf wird von den britischen Besatzern zur Hauptstadt des jungen Landes Nordrhein-Westfalen erklärt. Den Jugendlichen hilft Musik über Zukunftsängste hinweg. Ihre Hörgewohnheiten sind geprägt von den einst verbotenen Sounds der alliierten Befreier: Swing und Jazz begründen eine bis heute stilbildende Musikkultur.
Im prosperierenden Düsseldorf der 1960er-Jahre blüht die Musikszene: In den Clubs der Altstadt treten nicht nur englische Bands auf. Auch die lokale Szene findet hier zahlreiche Auftrittsmöglichkeiten. Bands wie The Beathovens, mit dem späteren Kraftwerk-Musiker Wolfgang Flür am Schlagzeug, covern den Blues und Beat der Helden aus UK und USA. Nur wenige wagen, Musik neu zu denken. Zur damaligen Zeit ist das Zentrum englischsprachiger Musik der „Liverpool Club" auf der Graf-Adolf-Straße.
Bei einem Konzert an der damaligen Kunstakademie Remscheid lernen sich die musikbegeisterten Studenten Florian Schneider-Esleben und Ralf Hütter kennen. Gemeinsam besuchen sie einen Jazz-Improvisationskurs am Robert-Schumann-Konservatorium Düsseldorf. Ralf und Florian durchstreifen die Kulturszene an Rhein und Ruhr. Daheim in Düsseldorf arbeiten sie an einer neuen, eigenen musikalischen Vision: Ralf an der Hammondorgel, Flötist Florian mit teilweise elektronisch verfremdeten Instrumenten (Elektrische Flöte, Altflöte, Glocke, Triangel, Tamburin, Elektrische Geige).
Kraftwerk hatte in den frühen 1970er-Jahren Glück, dass es in und um Düsseldorf bereits musikalische Happenings gab. „Anfangs hatten wir keinerlei Engagements in der traditionellen Musikszene. Wir traten innerhalb der Kunstszene auf, in Galerien, Universitäten und dergleichen”, erzählte Ralf Hütter einmal in einem Interview mit Jean François Bizot, erschienen in „Neonlicht – Die Kraftwerk Story” von Pascal Bussy.
Die Plattenfirma RCA ist an den jungen Düsseldorfern interessiert. Unter dem Bandnamen Organisation, der auch in England verstanden wird, entsteht in den Rhenus-Studios mit Conny Plank an den Reglern ein Album. Es wird 1970 exklusiv in England veröffentlicht. „Tone Float“ bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück. Die geplante Tour durch England fällt aus. Organisation (vollständiger Name: „Organisation zur Verwirklichung gemeinsamer Musikkonzepte“) lösen sich auf. Ralf und Florian bleiben indes unzertrennlich.
In der Düsseldorfer Innenstadt mieten Ralf und Florian Räume auf dem Gelände einer ehemaligen Werkstatt an. Das Kling-Klang-Studio wird zum Experimentierlabor ihrer Band, die einen deutschen Namen trägt: Kraftwerk. Die Wände werden mit Kunststoffplatten beklebt, die Musiker verlegen ihre Synthesizer- und Verstärkerkabel auf dem Linoleumboden. Die Band bezeichnet die Gründung des legendären Studios als den eigentlichen Beginn von Kraftwerk.
Mit diversen Gastmusikern wird das Genre, das britische Journalisten liebevoll-belächelnd „Krautrock“ getauft haben, weiterentwickelt: Drei Alben dokumentieren den Prozess: „Kraftwerk“, „Kraftwerk 2“ sowie „Ralf und Florian“.
Charakteristisch für das Frühwerk: Conny Planks Handschrift als Toningenieur und der Pylon als gestalterisches Motiv. Die Musik dieser Tage ist ein Versuch, nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigene deutsche Identität im Pop zu finden, die sich von der Tradition des Schlagers und der Volksmusik befreit und ohne die Hilfe angloamerikanischer Vorbilder auskommt.
Kraftwerk fusionieren Avantgardemusik und zeitgenössische Kunst: Die Cover zitieren Andy Warhols serielle Reproduktion von Kunst oder die Selbstdarstellung von Gilbert & George. Im Innenteil der Platte „Kraftwerk“ wird bereits 1970 ein Foto des Künstlerpaars Bernd und Hilla Becher verwendet, das in den späten 1970er-Jahren die heute weltbekannte Düsseldorfer Photoschule begründete.
Die Nähe Kraftwerks zur Kunst spiegelt sich auch wider in der Zusammenarbeit zwischen der Band und dem Künstler Emil Schult, einem Schüler von Joseph Beuys und schließlich Meisterschüler von Gerhard Richter. Beuys und Richter sind zu der Zeit beide an der Düsseldorfer Kunstakademie zu Hause. Ein Comic als Beileger zur LP „Ralf und Florian“ ist der Anfang einer langen kreativen Zusammenarbeit, der nicht nur spätere Albumcover entspringen, sondern auch Songtexte.
Zu den zahlreichen Gastmusikern des frühen Kraftwerk-Musikprojekts gehören für Liveauftritte und Studio-Sessions auch Schlagzeuger Klaus Dinger und Gitarrist Michael Rother. 1971 gründen Dinger und Rother eine eigene Band. Der Name ist Programm: NEU! Die Band macht experimentelle Rockmusik. Klaus Dingers Motorik-Beat und Rothers sphärische Gitarrenriffs sind unerhört. Die Band veröffentlicht zwischen 1972 und 1975 drei wegweisende Alben und löst sich aufgrund musikalischer Differenzen auf.
Der Einfluss von NEU! strahlt weit über Düsseldorf hinaus: Die Platten, die David Bowie, Brian Eno und Iggy Pop Ende der 1970er veröffentlichen, werden vom rheinischen Musiklabor inspiriert und klingen deshalb so "Deutsch". In den 1980er- und 90er-Jahren zitieren viele internationale Bands das Werk Dingers. Bekannte internationale Gruppen wie Stereolab, Sonic Youth, Radiohead oder Oasis werden durch den Stil von NEU! beeinflusst.
Bereits während der Arbeiten zu NEU! und bei Liveauftritten stehen Schlagzeuger Hans Lampe und Klaus Dingers Bruder Thomas der Band zur Seite. 1975 gründet Klaus Dinger mit ihnen die Band La Düsseldorf. Das Debüt „Düsseldorf“ verbindet Field Recordings und Krautrock zum Soundtrack des Lebens in der Rheinmetropole. Nach zwei weiteren Alben zerbricht die Band. Klaus Dinger habe den Mut gehabt, selbst zu denken, autonom zu leben und sich nicht gemäß den Vorgaben der Industrie zu verhalten, sagt Dinger-Archivarin Miki Yui später einmal in einem Interview mit Philipp Holstein in der Rheinischen Post.
Wolfgang Riechmann, gebürtiger Düsseldorfer, spielt in den 1960er-Jahren gemeinsam mit Wolfgang Flür und Michael Rother in der Band „Spirits of Sound“. Zwischen November 1977 und Januar 1978 entsteht im Hamburger Star Studio sein legendäres Soloalbum „Wunderbar“. Der Düsseldorfer spielt nahezu alle Instrumente selbst.
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Die Tragödie: Am 20. August 1978 spaziert Riechmann mit seiner Freundin durch die Mittelstraße der Düsseldorfer Altstadt. Es kommt zum Zusammenstoß mit zwei Kriminellen, einer sticht ihn im Drogen- und Alkoholrausch nieder.
Vier Tage später verstirbt Riechmann 31-jährig im Düsseldorfer Marienhospital – nur drei Wochen vor Erscheinen seines Albums. Zwei Jahre nach der Tat sagt der Mörder dem Richter, er habe willkürlich gehandelt, um sich „abzureagieren“. Gekannt habe er sein Opfer nicht. Düsseldorf verliert einen hoffnungsvollen Musiker, dessen Soloalbum bei vielen Kennern als eines der schönsten Alben des Genres Elektronische Musik gilt. „Wunderbar“ ist moderner, elektronischer Pop.
Der elektronische Sound des Rheinlands ruft den Wahlberliner David Bowie auf den Plan. Bowie ist derart angetan von Kraftwerk, dass er mit ihnen kooperieren will. Diese aber lehnen selbstbewusst ab. Auch Versuche, Kraftwerk als Vorgruppe für eine Tour zu gewinnen, scheitern. Immerhin: Im Song „Trans Europa Express“ würdigen sie das Treffen mit Bowie und Iggy Pop in Düsseldorf. Und Bowie spielt für sein Berlin-Album „Heroes“ den Song „V2-Schneider“ ein – eine Anspielung auf die letzte „Wunderwaffe“ der Nazis wie auf den Kraftwerk-Musiker.
David Bowies Ohren bleiben auch nach den stilprägenden 1970er-Jahren am Puls der Düsseldorfer Musikszene. Bei seinem Gespräch mit David Bowie im Jahr 1997 macht der Journalist Max Dax ein Geschenk: die CD „Weekend“ der Düsseldorfer Band Kreidler. Das Coverfoto, eine Arbeit des Gründungsmitglieds Stefan Schneider, zeigt blühende Magnolien im Düsseldorfer Volksgarten. In der Interviewzeitschrift „Alert” von Max Dax lobt Bowie das Artwork und die Urheber: „Übrigens habe ich schon viel über Kreidler gehört, und nur Gutes.“
Kreidler gründen sich 1994 aus dem Umfeld der Düsseldorfer Kunstakademie. Der Avantgardepop verbindet die analoge und digitale Welt und zeigt starken Bezug zu Kunst und Literatur. Das Quartett erschließt bis heute neue Klangwelten.
2002 trifft der Autor und Musikjournalist Thomas Venker David Bowie für die Musik- und Popkulturzeitschrift „Intro” zum Interview. Angesprochen auf die deutsche Punkbewegung, die Ende der 1970er im Ratinger Hof entstand, und die Ereignisse in Düsseldorf erinnert sich Bowie: „Ja, ich habe Düsseldorf sehr genau verfolgt und mochte viel davon.“ Der Star vertraut Venker an: „Ich sag dir, wen ich momentan sehr mag. Es sind Deutsche. Mouse on Mars.“ – und auch diese Band stammt aus Düsseldorf!
Das Avantgarde-Elektro-Duo Mouse on Mars gilt als eines der wichtigsten und vielseitigsten Projekte für elektronische Musik in Deutschland. Andi Toma und Jan St. Werner sind unermüdliche Arbeiter am Begriff der elektronischen Popmusik. „Sie sind die Philosophen unter den vielen deutschen Elektronikern, die sich seit den Neunzigern aus der alternativen Techno-Szene entwickelten”, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Seit 1994 mischen die Klangtüftler Techno, Dub, Krautrock und vieles mehr zu ebenso einzigartigen wie abstrakten Konstrukten, die sie zu einem renommierten deutschen Export in Sachen Electronica machen.
Kuratiert von Sven-André Dreyer und Dr. Michael Wenzel, redaktionelle Mitarbeit Thorsten Schaar (Visit Düsseldorf).
Beteiligte Institutionen: Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf, Stadtarchiv Düsseldorf, Heinrich-Heine-Institut, Stadtmuseum Düsseldorf, Tonhalle Düsseldorf gGmbH
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