Sonnenuntergang Ahrenshoop I

Walter Gramattés in nur eineinhalb Jahrzehnten entstandenes künstlerisches Œuvre zählt aus der Sicht der heutigen Kunstwissenschaft zu den reifen Leistungen des Expressionismus der zweiten Generation. Gramatté teilte das Schicksal dieser Nachgeborenen, die sich nur noch formal an der „Brücke“ oder dem „Blauen Reiter“ orientierten, während die Inhalte ihrer Kunst von oft schrecklichen persönlichen Erfahrungen aus den Jahren des Ersten Weltkrieges bestimmt wurden. In Berlin geboren, erlag Gramatté im Sommer 1914 dem Sog der Kriegseuphorie und geriet als 17-jähriger Freiwilliger an die Westfront. Obwohl er krankheitsbedingt zeitweise als wehruntauglich galt und von 1915 bis 1916 an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums studieren konnte, verblieb er doch bis 1918 im Militärdienst. Fortan drehte sich seine Gedanken- und Bildwelt um diese gravierende Lebenszäsur. Gramatté malte, zeichnete und radierte Szenen, wo – ähnlich wie im Frühwerk Edvard Munchs – Angst und Qual als hoffnungsferne Seelenzustände bildhaft werden. Nach dem Krieg weilte der Künstler mehrfach an der Ostsee. Die Aura der Insel Hiddensee verglich er in einem Brief an Rosa Schapire begeistert mit einem „Gebet“, doch entflammte ihn die Landschaft um Ahrenshoop nicht weniger. Das abgebildete Aquarell entstand 1924 bei einem Aufenthalt im Künstlerort und zeugt von den starken Emotionen, die das schlichte, mit romantischem Naturempfinden konnotierte Motiv bei ihm ausgelöst haben muss. In der für ihn bezeichnenden vehementen Pinselschrift hat Gramatté die dunklen, verhaltenen Töne neben leuchtende Farbakkorde gesetzt. Der koloristische Kontrast zerteilt die Bildfläche, verfremdet die Naturformen und steigert sie ins Metaphorische. Um die geistige Dimension eines Motivs sichtbar herauszustellen, variierte Gramatté seine Sujets immer wieder. Das Ahrenshooper Aquarell verdichtete er zu einem Ölgemälde, auf dem sich vor dem Hintergrund des Sonnenuntergangs ein dramatisches Gewitter ereignet.