Der Literaturpapst

Marcel Reich-Ranicki in Bildern und Selbstzeugnissen

Literaturforum 1996 (1996) von Oliver SebelJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) war der bekannteste und einflussreichste Literaturkritiker der Bundesrepublik. Als Überlebender des Warschauer Ghettos siedelte er 1958 von Polen in die Bundesrepublik Deutschland über. Als Kritiker schrieb er zunächst für Die Zeit, dann für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Die folgende Präsentation erzählt sein Leben anhand ausgewählter Werke aus seiner persönlichen Sammlung von Schriftstellerporträts und -karikaturen, die er 2003 dem Jüdischen Museum Frankfurt schenkte. Ergänzt werden diese durch Zitate aus seinen Memoiren Mein Leben, die monatelang die deutschen Bestsellerlisten anführten.
Marcel Reich-Ranicki wurde häufig als "Literaturpapst" bezeichnet, eine Wortschöpfung, die auf Lessing zurückgeht und unter anderem auf Alfred Kerr angewandt worden war. Reich-Ranicki, der sich der Ambivalenz dieser Bezeichnung durchaus bewusst war, schrieb dazu ironisch: "Zwar nannte man mich immer häufiger 'Großkritiker' oder gar 'Literaturpapst', aber es war keineswegs sicher, ob es sich hierbei um respektvoll freundliche Bezeichnungen handelte.

"Um es ganz einfach zu sagen: Ich wollte Ihnen [den Lesern] erklären, warum die Bücher, die ich für gut und schön halte, gut und schön sind, ich wollte sie dazu bringen, diese Bücher zu lesen."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S.534f.

Schiller (nach Schadow) (1975) von Horst JanssenJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Marcel Reich wurde am 2. Juni 1920 im polnischen Włocławek als Sohn des Kaufmanns David Reich und seiner aus Deutschland stammenden Frau Helene geboren. Der Großvater mütterlicherseits war Rabbiner, die Mutter löste sich jedoch vom Judentum und erzog auch ihren Sohn Marcel areligiös. Nachdem die Firma des Vaters in Konkurs ging, übersiedelte die Familie 1929 nach Berlin zu Verwandten der Mutter. Hier entwickelte er bereits als Schüler seine Leidenschaft für die deutsche Literatur.

Friedrich Schiller (nach Ludovike Simanowiz) (1820/1830) von Siegfried Detlev BendixenJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

"Wann hat meine Leidenschaft für die Literatur angefangen? Genau weiß ich es nicht, aber meine Mutter muss sie schon sehr früh bemerkt haben. Denn als ich zwölf Jahre alt, bekam ich von ihr aus irgendeinem Anlass ein Geschenk, ein ungewöhnliches: eine Eintrittskarte für die Aufführung des 'Wilhelm Tell' (...)
Mit Schiller hängt auch mein erster Erfolg als Deutschschüler zusammen. … Einer der Mitschüler sollte einen Vortrag über den 'Wilhelm Tell' halten, war aber schon nach knapp fünf Minuten fertig. Der Lehrer, der erheblich mehr erwartet hatte, fragte, ob jemand noch etwas über das Stück sagen könnte. Ich meldete mich und legte los: Der 'Tell' verherrliche den politischen Meuchelmord und einen individuellen Terrorakt. Um dies und ähnliches zu begründen, muss ich viele Worte gebraucht haben, denn nach etwa vierzig Minuten, als es zur Pause klingelte, sprach ich immer noch."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S.82, 84f.

Porträt Gerhart Hauptmann (1920) von Ivo HauptmannJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde der Antrag der Familie auf die deutsche Staatsbürgerschaft abgelehnt. Marcel Reich wurde für kurze Zeit Mitglied des zionistischen Pfadfinderbundes und begeisterte sich für die Schriften von Theodor Herzl. Nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze 1935 kehrten die Eltern und der Bruder nach Warschau zurück. Marcel Reich bestand 1938 das Abitur am Fichte-Gymnasium in Berlin Wilmersdorf, die Zulassung zum Studium der Germanistik wurde ihm als Jude aber verweigerte.

"Begeistert vom 'Biberpelz' las ich gleich ein halbes Dutzend der Dramen Hauptmanns. Mehr noch, ich begriff, dass Literatur unterhaltsam sein darf – und sein sollte. Ich habe es nie vergessen."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 50.

Wer ist wer? (1990) von Tullio PericoliJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Im Oktober 1938 wurde Marcel Reich aus Deutschland ausgewiesen und nach Polen deportiert. Er lebte nun bei seinem Bruder und seinen Eltern in Warschau. In Warschau las er viel deutsche Exilliteratur, mit der er sich auch später intensiv beschäftigte.
Seine Schwester Gerda und ihr Mann Gerhard Böhm konnten kurz vor Kriegsausbruch nach England fliehen. Auch einigen seiner Cousinen und Cousins gelang die Ausreise nach Großbritannien, darunter der Maler Frank Auerbach.

"Ich war begierig zu erfahren, was Thomas und Heinrich Mann, Arnold und Stefan Zweig, Döblin und Joseph Roth, Werfel, Feuchtwanger und Brecht, was sie alle nach 1933, in der Emigration also, geschrieben hatten. Das war nicht schwierig, denn es gab damals in Warschau viele private Leihbibliotheken, und manche waren mit deutschen Büchern gut versorgt."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 104

Erich Kästner, Lyrische Hausapotheke (1941) von Teofila Reich-RanickiJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Marcel Reich lernte im Januar 1940 seine spätere Frau Teofila (genannt Tosia) Langnas (1920 Lodz – 2011 Frankfurt) kennen, kurz nachdem sich ihr Vater aufgrund einer Demütigung durch einen deutschen Soldaten erhängt hatte.
Im Sommer 1940 ordneten die deutschen Besatzer die Errichtung des Warschauer Ghettos an. Wegen seiner guten Deutschkenntnisse wurde Marcel Reich Leiter des Übersetzungsbüros des Judenrates.

Erich Kästner, Lyrische Hausapotheke (1941) von Teofila Reich-RanickiJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

"Tosia also hat Kästners Lyrische Hausapotheke für mich von Hand kopiert. Sie hat die Gedichte auch illustriert und schließlich die Blätter sorgfältig geheftet. Das so entstandene Buch erhielt ich zu meinem 21. Geburtstag – am 2. Juni 1941 im Warschauer Getto. War mir je ein schöneres Geschenk zugedacht worden?"
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 40

"Umschlagplatz", czyli poczekalnia przed odjazdem do Treblinki / "Umschlagplatz" - Warten auf den Abtransport nach Treblinka (1942/1943) von Teofila Reich-RanickiJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Heirat

Marcel Reich und Teofila Langnas heirateten am 22. Juli 1942 im Ghetto. Reich konnte seine Frau auf diese Weise vor der Willkür der Besatzer schützen, nicht aber seine Eltern und Teofilas Mutter Emilie, die im September aus dem Ghetto deportiert und in Treblinka ermordet wurden. Sein Bruder Alexander wurde im November im Arbeitslager Poniatowa von SS-Leuten erschossen.

"Eine Hochzeitsreise haben wir nicht gemacht, sie blieb uns, Tosia und mir, erspart – sie hätte ja nur ein Ziel haben können: die Gaskammer."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 252

Porträt Theodor Fontane (1970) von Horst JanssenJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Im Februar 1943 gelang Marcel und Teofila Reich die Flucht aus dem Warschauer Ghetto. Sie fanden bis zur Befreiung durch die Rote Armee Unterschlupf im Häuschen des arbeitslosen Setzers Bolek und seiner Frau Genia am Warschauer Stadtrand. Zur Unterhaltung seiner Gastgeber erzählte Marcel Reich ihnen abends Geschichten, die auf literarischen Vorlagen basierten.

"Von diesem Tag an erzählte ich täglich, sobald es dunkel geworden war, dem Bolek und seiner Genia allerlei Geschichten – stundenlang, wochenlang, monatelang. Sie hatten nur einen einzigen Zweck: die beiden zu unterhalten. Je besser ihnen eine Geschichte gefiel, desto besser wurden wir belohnt: mit einem Stück Brot, mit einigen Mohrrüben. Ich habe keine Geschichte erfunden, keine einzige. Vielmehr erzählte ich, woran ich mich erinnern konnte: In der düsteren, kümmerlichen Küche bot ich meinen dankbaren Zuhörern schamlos verballhornte und auf simple Spannung reduzierte Kurzfassungen von Romanen und Novellen, Dramen und Opern, auch Filmen. Ich erzählte den 'Werther', 'Wilhelm Tell' und den 'Zerbrochenen Krug', 'Immensee' und den 'Schimmelreiter', 'Effi Briest' und 'Frau Jenny Treibel', 'Aida', 'Traviata' und 'Rigoletto'."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 286

Porträt Bertold Brecht (1976) von Wolfgang WerkmeisterJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Nach 1945

Nach der Befreiung schlossen sich Marcel und Teofila Reich der polnischen Armee an und wurden zunächst einer Propaganda-Einheit, dann der Militärzensur zugeteilt. Nach dem Krieg war Marcel Reich im polnischen Auslands-Nachrichtendienst und im Konsulardienst tätig. Damals änderte er seinen Nachnamen in "Ranicki".

Porträt Bertold Brecht (1976) von Wolfgang WerkmeisterJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

"Am nächsten Tag meldete ich mich beim Ortskommandanten, wo sich gleich zeigte, dass die Propaganda-Einheit, die ich suchte, noch gar nicht existierte. Doch ihren künftigen Chef gab es schon. … Ohne aufzublicken, fragte er mich militärisch knapp: 'Können Sie Deutsch?' Dann stellte er mir ohne Übergang eine unerwartete, beinahe unglaubliche Frage: … 'Kennen Sie Brecht?' Ich sagte: 'Ja'. … Wir beide … wir waren, dessen bin ich beinahe sicher, die einzigen in der polnischen Armee, die den Namen Brecht kannten."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 303f.

Porträt Franz Kafka (1982) von Cássio LoredanoJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

1950 wurde Marcel Reich-Ranicki aus dem Auswärtigen Dienst und aus dem Geheimdienst unter dem Vorwurf eines Visavergehens entlassen und aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Er arbeitete für verschiedene polnische Verlage und Zeitungen als Lektor, Übersetzer und Kritiker.

"Ich schrieb nicht nur über die Schriftsteller der älteren Generation, sondern auch über die in Polen meist noch unbekannten Repräsentanten der Nachkriegsliteratur (wie Frisch und Koeppen, Böll und Andersch, Martin Walser und Siegfried Lenz). Ich betätigte mich (zum ersten Mal in meinem Leben) auch als Übersetzer. Mit einem Freund … übersetzte ich Kafkas 'Schloss' in der Bühnenfassung von Max Brod und Dürrenmatts 'Der Besuch der alten Dame'."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 371

Porträt Heinrich Böll (1981) von Celestino PiattiJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

In Deutschland

1958 erfolgte die Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland. Um den – angeblich für einen befristeten Studienaufenthalt benötigten – Reisepass zu erhalten, war eine Bürgschaft nötig, die Heinrich Böll bereitwillig erteilte. Er hatte Böll 1956 kennengelernt, als dieser auf Einladung des Verbandes polnischer Schriftsteller Warschau besuchte.
Erste Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt und verschiedene Radiosender erschienen unter dem Namen Marcel Reich-Ranicki.

"Wir waren noch nicht lange in der Bundesrepublik, da kam Böll nach Frankfurt, um uns in dem ärmlichen möblierten Zimmer, in dem wir wohnten, zu besuchen. Er brachte einen Blumenstrauß mit. Tosia sagte mir später: 'Er ist der erste Deutsche, von dem ich einen Blumenstrauß bekommen habe.' Und ich dachte mir im Stillen: Vielleicht ist er überhaupt der erste Deutsche."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 366

Gruppenbild (1981) von Cássio LoredanoJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Gruppe 47

Die von Hans Werner Richter initiierten Treffen der Gruppe 47 waren das wichtigste Forum der Nachkriegsliteratur in der jungen Bundesrepublik. Marcel Reich-Ranicki nahm ab 1958 regelmäßig an den Treffen der Gruppe 47 teil und wurde bald zu einem ihrer bekanntesten Gesichter.

"Schon in Polen hatte ich, in der letzten Zeit vor meiner Abreise, einige von den Preisträgern der 'Gruppe' gelesen, von Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, Heinrich Böll, Günter Eich und Martin Walser. Ich kannte die Namen vieler der in Großholzleute anwesenden Autoren wie Hans Magnus Enzensberger oder Wolfgang Hildesheimer, von Günter Grass ganz zu schweigen. Ich fühlte mich in dieser deutschen Schriftsteller-Gruppe alles in allem ganz gut und jedenfalls nicht fremd."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 408f.

Nonne mit Aal (1973) von Günter GrassJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Mit Günter Grass verband Marcel Reich-Ranicki seit ihrem gemeinsamen Debut bei der Gruppe 47 eine enge, wenn auch spannungsreiche Beziehung. Obwohl er einige von Grass' Büchern sehr negativ kritisierte, zählte er ihn doch zu den größten zeitgenössischen Schriftstellern.

"Ich berichtete, wie ich mich in düsteren Stunden als ein Geschichtenerzähler betätigte, der seine Stoffe der Weltliteratur entnahm. Hinterher fragte mich Grass, ob ich dies zu schreiben gedenke. Da ich verneinte, bat er mich um Erlaubnis, einige dieser Motive zu verwenden. Erst viele Jahre später, 1972, publizierte er sein 'Tagebuch einer Schnecke', in dem ich meine Erlebnisse wiederfand – er hatte sie einem Lehrer mit dem Spitznamen 'Zweifel' zugeschanzt. Als wir uns wieder einmal trafen, sagte ich beiläufig, dass ich wohl an den Honoraren für das 'Tagebuch einer Schnecke' beteiligt sein sollte. Grass erblasste und zündete sich mit zitternder Hand eine Zigarette an. Um ihn zu beruhigen, machte ich ihm rasch einen Vorschlag: Ich sei bereit, auf alle Rechte ein für alle Mal zu verzichten, wenn er mir dafür eine seiner Grafiken schenke."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 388

Porträt Max Frisch (1972) von Otto DixJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch wurde in den 1950er Jahren mit seinen Romanen "Stiller" und "Homo Faber" weltberühmt. Marcel Reich-Ranicki nahm 2002 Frischs "Montauk" in seinen 20 Bände umfassenden "Kanon" der wichtigsten deutschsprachigen Romane auf.

"Mir war daran gelegen, Frisch zumindest als gelegentlichen Mitarbeiter des Literaturteils der 'Frankfurter Allgemeinen' zu gewinnen. Ich schrieb ihm Briefe, ich rief ihn an, ich traf ihn hier und da. … Er antwortete rasch und freundlich, nur lief es immer auf Ausreden hinaus. … Doch 1977 überraschte mich Frisch mit einem Geschenk: Er schickte mir eine wunderbare Radierung. Es war sein Porträt gezeichnet von Otto Dix. Die Gabe sollte mich, wie er wenig später mitteilte, für die Enttäuschung, die er mir habe mehrfach bereiten müssen, entschädigen: Die Sache sei die, dass verschiedene politische Akzente in der 'Frankfurter Allgemeinen' für ihn nicht annehmbar seien. Daher wolle er für diese Zeitung auf keinen Fall schreiben …"
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 520f.

Verleihungsurkunde zur Goldenen Medaille der Stadt Klagenfurt (1986)Jüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Der einflussreiche Kritiker

1977 fanden in Klagenfurt erstmals die Tage der deutschsprachigen Literatur statt, bei denen der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen wird. Der Wettbewerb, bei dem zumeist junge Autoren aus ihren Texten vorlesen, die dann anschließend von einer Fachjury diskutiert werden, wurde – auch weil er im Fernsehen übertragen wird – zu einer der wichtigsten Veranstaltungen zur Gegenwartsliteratur. Marcel Reich-Ranicki erlangte als Sprecher der Jury allgemeine Bekanntheit.

Nachbildung eines Schautalers aus der alten Klagenfurter Münze (um 1980)Jüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

"Es dauerte nur wenige Jahre, da hieß es klipp und klar, ich hätte ungewöhnlich viel Macht an mich gerissen. … Meine Teilnahme am literarischen Leben ging in diesen Jahren weit über die 'Frankfurter Allgemeine' hinaus: Ich gehörte vielen Jurys an, ich war 1977 Mitinitiator des Klagenfurter Wettbewerbs um den Ingeborg-Bachmann-Preis und bis 1986 der Sprecher der Jury dieses Wettbewerbs. Allerdings erlaube ich mir zu fragen: War das für die Literatur gut oder schlecht?"
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 491

Schädelstätte (1980) von Friedrich DürrenmattJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Als Kritiker war Marcel Reich-Ranicki für seine eindeutigen Beurteilungen bekannt und gefürchtet. Aufgrund seiner Popularität und seiner charakteristischen Sprechweise wurde er zu einem der meistparodierten und -karikierten Intellektuellen der Bundesrepublik.

"Obwohl ich viele, sehr viele zustimmende Besprechungen geschrieben habe und obwohl mich bei gelegentlicher Lektüre alter Kritiken die Frage irritiert, ob ich nicht allzu häufig bereit war, Bücher zu feiern, die es kaum verdient hatten, stand ich in dem Ruf eines Spezialisten für Verrisse. Auf einer Zeichnung von Friedrich Dürrenmatt hocke ich, mit einem überdimensionalen Federhalter bewaffnet, auf vielen Köpfen, offenbar jenen meiner Opfer. Die Zeichnung ist überschrieben: 'Schädelstätte'."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 445

Bambi, Medien- und Fernsehpreis in der Kategorie Kultur (1989)Jüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Das Literarische Quartett war eine Fernsehsendung, die von 1988 bis 2001 ausgestrahlt wurde. Vier Literaturkritiker diskutierten, meist kontrovers, über Bücher und deren Autoren. Obwohl die Sendung eigentlich einem sehr minimalistischen Konzept folgte, das auf Filmeinspielungen und ähnliches verzichtete, war sie bei den Zuschauern äußerst beliebt.

"Zum Publikum des 'Literarischen Quartetts' gehören neben Lesern und Kennern der Literatur auch Menschen, die von ihr nichts wissen wollen. Bisweilen sehen sie uns dennoch zu, wohl deshalb, weil sie Spaß an unseren Gesprächen haben und vielleicht auch an unserem Streit. Allem Anschein nach greifen diese Zuschauer, oft selber von ihrem plötzlich erwachten Interesse überrascht, zu dem einen oder anderen der besprochenen Bücher. Ich will nicht verheimlichen, dass mir gerade an diesen Zuschauern besonders gelegen ist."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 537f.

Die Goldene Kamera (2000)Jüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Als Gastgeber der Fernsehsendung Das Literarische Quartett wurde Marcel Reich-Ranicki mit mehreren Fernsehpreisen ausgezeichnet, darunter das Bambi und die Goldene Kamera.
Die Annahme des Deutschen Fernsehpreises 2008 verweigerte er allerdings spontan unter Verweis auf das nachlassende Niveau des Fernsehens.

"Ich glaube, dass mir ein großes Unrecht antun würde, wer meine beruflichen Leistungen lediglich aufgrund des ‚Literarischen Quartetts‘ beurteilte. Was ich zur Literatur zu sagen hatte und habe, ist nach wie vor in meinen Aufsätzen für Zeitungen und Zeitschriften zu finden und in meinen Büchern. Doch was ich in meinem langen Kritikerleben wollte und was mir nie ganz gelungen ist, was ich nie ganz geschafft habe – die breite öffentliche Wirkung auf das Publikum –, das hat mir erst das Fernsehen ermöglicht."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 539

Mein Leben (1999) von Marcel Reich-RanickiJüdisches Museum Frankfurt / Museum Judengasse

Unter dem Titel "Mein Leben" erschien 1999 die Autobiografie Marcel Reich Ranickis. Sie belegte vom 11. Oktober 1999 bis zum 15. Oktober 2000 Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und war somit eines der erfolgreichsten Bücher zur Zeitgeschichte. 2009 entstand ein gleichnamiger Film nach den Memoiren.

"Die Geschichte dieser Autobiographie reicht weit zurück – bis zum Jahr 1943. Damals, wenige Tage nach unserer Flucht aus dem Warschauer Ghetto, wurde sie mir abverlangt – von Teofila Reich-Ranicki. Ich bin dieser Aufforderung nicht nachgekommen, ich habe mich den Wünschen, die ich im Laufe der Zeit von sehr verschiedenen Personen zu hören bekam, auch von Andrew Alexander Ranicki, viele Jahre und Jahrzehnte widersetzt. Ich wollte das Ganze nicht noch einmal in Gedanken erleben. Überdies fürchtete ich, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Erst ein halbes Jahrhundert später, also 1993, habe ich mich entschlossen mein Leben darzustellen."
Marcel Reich-Ranicki "Mein Leben", 1999, S. 555

Mitwirkende: Geschichte

Objekte und Fotos:
Jüdisches Museum Frankfurt, Schenkung Marcel Reich-Ranicki

Konzept und Text:
Erik Riedel

Redaktion und Umsetzung:
Korbinian Böck

Auszüge aus Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben: © 1999, Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Literatur:
Die Sammlung Reich-Ranicki. Schriftstellerporträts aus zwei Jahrhunderten, Frankfurt: Jüdisches Museum Frankfurt 2003
Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, München: DVA 1999

Quelle: Alle Medien
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