By State Archive North Rhine-Westphalia
Landesarchiv Nordrhein-Westfalen
Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Bildungskrise, Strukturwandel, Integration, Kultur- und Sportevents – all dies und vieles mehr haben die Bewohnerinnen und Bewohner Nordrhein-Westfalens in den letzten 70 Jahren erlebt, z.T. durchlitten, gemeinsam bewältigt und gefeiert. Dabei gewann das neugegründete Land nach und nach an Kontur und konnte eine eigene, vielgestaltige Identität ausbilden. Heute steht NRW für eine moderne, vielfältige und tolerante Gesellschaft, die liebgewonnene Traditionen bewahrt, aber auch neuen Tendenzen offen gegenübersteht. Aus „schwarz-weiß“ ist „bunt“ geworden!
Die Idee
Die historische Entwicklung des Bundeslandes von seiner Gründung im Jahr 1946 an bis heute beleuchtet die Ausstellung in Schlaglichtern. Ein Schlaglicht ist (laut Duden-Definition) ein Licht, das einen bestimmten Gegenstand leuchtend aus einer dunkleren Umgebung heraushebt. Im übertragenen Sinne bedeutet das, dass wichtige Aspekte der Landesgeschichte aufgegriffen, andere, die bestimmt nicht weniger bedeutend oder interessant wären, hier jedoch nicht oder allenfalls am Rande thematisiert werden. Die Quellen, die der Ausstellung zugrunde liegen, werden zu einem großen Teil im Landesarchiv NRW an den regionalen Standorten Duisburg, Münster und Detmold aufbewahrt und sind auch dort einzusehen. Besonders hervorzuheben ist die Fotosammlung des Landesarchivs, aus der die meisten Abbildungen stammen und deren weite Spannbreite und Bedeutung für die Forschung hier deutlich werden; genauso wichtige, themenspezifische Quellen sind im Stadtarchiv Düsseldorf zu finden.
NRW-Staatlichkeit
Ein Bundesland entsteht... „… dem inneren und äußeren Frieden zu dienen, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung gegeben“ So lauten die weiteren Staatszielbestimmungen, wie sie in einem Volksentscheid am 18. Juni 1950 bejaht wurden und in der Präambel (dem Vorspruch) als „integraler Teil der Verfassung“ bezeichnet sind. Im Sommer 1950, als die Landesverfassung in Kraft trat, gab es das Land Nordrhein-Westfalen schon fast vier Jahre.
Der 23. August 1946 ist das offizielle Gründungsdatum des Bundeslandes, veröffentlicht in der Verordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung über die Neubildung der Länder in der britischen Zone. Doch es musste viel passieren bis es zu dieser Entscheidung kam. Nachdem das deutsche Reich mit der Nazi-Diktatur unter Adolf Hitler 1939-1945 vielen Ländern Krieg und Zerstörung gebracht hatte, wendeten sich Verwüstung und Besetzung in den letzten Kriegsjahren gegen die Verursacher, gegen Deutschland und seine Bevölkerung. Der militärischen Niederlage folgte der staatliche Zusammenbruch. Die Siegermächte übernahmen die Staatsgewalt und lösten auch die deutschen Länder, wie Preußen, auf. Briten, Amerikaner, Franzosen und Russen teilten das eroberte Gebiet in Besatzungszonen auf. Die Briten erhielten Nordwestdeutschland mit der preußischen Provinz Westfalen. Die Provinz Rheinland wurde geteilt. Großbritannien beherrschte die Regierungsbezirke Köln, Aachen und Düsseldorf und machte am 21. Juni 1945 daraus die Provinz Nordrhein. Das Ruhrgebiet, das sich über beide Besatzungsprovinzen erstreckte, war trotz aller Zerstörung wirtschaftliches Kernland mit vielen Menschen, die wegen der zerstörten Verkehrswege Hunger litten. Nahrungsmittel wurden dafür in anderen Gebieten des Rheinlands und besonders Westfalens produziert. Also überlegte die britische Regierung, Nordrhein und Westfalen zusammen könnten sich gegenseitig mit Nahrungsmitteln versorgen und damit den Menschen genug Kraft geben, die Städte und Industrien wieder aufzubauen. Auch deshalb entschloss sich das „Overseas Reconstruction Committee“ im britischen Außenministerium am 21. Juni 1946 für die Zusammenlegung der Nordrheinprovinz mit der Provinz Westfalen. Operation Marriage war also eine Vernunfthochzeit! Ihre Veröffentlichung in der Verordnung Nr. 46 der britischen Militärregierung am 23. August 1946, dem eigentlichen Landesgeburtstag, war nur noch Formsache.
Die Briten übernahmen nach Kriegsende, wie die anderen alliierten Siegermächte, die Befugnisse aller Verwaltungen in ihrem Besatzungsgebiet. Ausgehend von den Gemeinden, Städten und Kreisen ernannten sie auch in den Provinzen Nordrhein und Westfalen Verwaltungsspitzen. Davon leiteten sie (die Besatzungsmacht) auch das Recht ab, einen Ministerpräsidenten und eine Landesregierung zu ernennen. So wurde der Verwaltungschef der Provinz Westfalen Rudolf Amelunxen (1888-1969) schon am 24. Juli 1946 – vier Wochen vor der eigentlichen Gründung des Landes – mit der Regierungsbildung beauftragt und zum ersten Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen ernannt. Gleichzeitig gab die britische Militärregierung ihm klare Vorgaben, welche Ministerien einzurichten waren und wie viele Ministerämter die wieder oder neu entstehenden Parteien und gesellschaftlichen Gruppen erhalten sollten. Ziel war eine Allparteienregierung. Daraufhin wurden zwischen dem 29. August und dem 10. September 1946 zehn Minister ernannt. Der erste Ministerpräsident, der auf der Grundlage einer Landtagswahl vom Landtag gewählt wurde, war Karl Arnold (1901-1958). Er wurde am 17. Juni 1947 von den Abgeordneten gewählt, die am 20. April 1947 erstmals direkt von den Bürgerinnen und Bürgern bestimmt aus einer Landtagswahl hervorgingen. Die erste Frau in einem Ministeramt war Christine Teusch, die am 18. Dezember 1947 als Kultusministerin berufen wurde. Sie war damit die zweite Frau überhaupt, die in der Bundesrepublik Deutschland ein Amt als Ministerin bekleidete.
Das Landeskabinett NRW unter Rudolf Amelunxen. sitzend v.l.n.r.: (wahrscheinlich) Maria Amelunxen, Dr. Rudolf Amelunxen (Ministerpräsident), Regional Commissioner NRW William Asbury, Dr. Walter Menzel (stv. Ministerpräsident und Innenminister), (wahrscheinlich) Emmy Menzel; stehend v.l.n.r.: Hermann Wandersleb (Chef der Staatskanzlei), Prof. Dr. Erik Nölting (Wirtschaftsminister), Heinz Renner (Sozialminister), Dr. Hermann Heukamp (Landwirtschaftsminister), Hugo Paul (Wiederaufbauminister), Franz Blücher (Finanzminister), Dr. Fritz Stricker (Verkehrsminister), August Halbfell (Arbeitsminister), Eduard Kremer (Justizminister) (1946), LAV NRW R RWB 1441/3, Foto: Pressebilderdienst C.A. Stachelscheid
Gemessen an der Ernennung der Landesregierung trat der ebenfalls von der britischen Besatzungsmacht ernannte Landtag „erst“ am 2. Oktober 1946 zu seiner feierlichen Eröffnung im Opernhaus in der neuen, ebenfalls von den Briten bestimmten Landeshauptstadt Düsseldorf zusammen. Seine 200 Abgeordneten wurden im Wesentlichen aus den Abgeordneten der beiden Provinzialräte Nordrhein und Westfalen berufen. Die Zusammensetzung des Landtags änderte sich bereits im November. Nun sollte der Landtag in seiner Zusammensetzung das Ergebnis der Kommunalwahlen vom 13. Oktober 1946 widerspiegeln. Diese Wahlen waren die ersten, die in ganz Nordrhein-Westfalen nach den Grundsätzen einer allgemeinen, gleichen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahl durchgeführt wurden. Sie sollten nach dem Verständnis der Briten vor allem der Demokratieerziehung (Reeducation) der Deutschen dienen und einen Aufbau der Demokratie „von unten“ befördern. Auf dieser Basis wurde auch der Landtag erstmals am 20. April 1947 gewählt. Seit der jüngsten Landtagswahl am 13. Mai 2012 vertreten 237 Abgeordnete die Bürgerinnen und Bürger. Der Landtag ist das höchste Staatsorgan des Landes und wird als einziges Verfassungsorgan für fünf Jahre direkt vom Volk gewählt.
Seine heutige Gestalt erhielt das Bundesland durch die Verordnung Nr. 77 der britischen Militärregierung vom 21. Januar 1947. Das bis dahin selbstständige Land Lippe, das seit dem 12. Jahrhundert auf eine eigenständige staatliche und verwaltungstechnische Tradition zurückgreifen konnte, wurde mit diesem Papier, nicht ohne Diskussion und Gegenwind, nach Nordrhein-Westfalen eingegliedert. Dafür hatte die nordrhein-westfälische Landesregierung dem ehemaligen Freistaat eine Reihe von Zugeständnissen gemacht, die in den Lippischen Punktationen vom 5. Dezember 1946 niedergelegt sind. Zu den wesentlichen Vereinbarungen gehörte, dass das ehemalige Landesvermögen nicht an das Land Nordrhein-Westfalen fiel, sondern von einer eigenen Institution (ab 1949 Landesverband Lippe) verwaltet werden sollte. Das Hoheitssymbol des eingegliederten Landesteils, die lippische Rose, fand Eingang in das Wappen des Landes Nordrhein-Westfalen, wo es neben Rhein (für das Rheinland) und Westfalenross (für Westfalen) an die ehemalige Eigenständigkeit erinnert.
Bildung
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen im Schulwesen vor allem praktische Herausforderungen im Vordergrund. Viele Gebäude waren durch den Krieg beschädigt – an der Busenbergschule in Dortmund beispielsweise gab es zunächst nur vier Räume für 500 Schüler – und die wenigen noch verfügbaren Räume mussten optimal genutzt werden. Da viele Lehrer als Soldaten eingezogen waren, die Schüler Flak-Dienste leisten mussten oder aus den bombengefährdeten Gebieten evakuiert waren, hatten viele Kinder und Jugendliche in den letzten Kriegsjahren keinen oder nur wenig Schulunterricht erhalten. Für sie mussten Sammel- und Sonderklassen eingerichtet werden, um sie auf einen ihrem Alter entsprechenden Stand zu bringen. Zudem erhielten viele Lehrer im Rahmen der Entnazifizierung zunächst ein Berufsverbot, um zu verhindern, dass ideologische Vorstellungen der NS-Zeit weiter unterrichtet wurden. Die Schulpolitik beschränkte sich darauf, die überkommene Schulstruktur der Weimarer Republik mit ihrem gegliederten System aus Volksschule, Realschule und Gymnasium wiederherzustellen. Zur Wiederherstellung der alten Ordnung gehörte auch die Wiederbelebung der Konfessionalität. Volksschulen wurden daher überwiegend als katholisch oder evangelisch eingerichtet. Vielerorts war es so wie in Dortmund-Marten: Auf Wunsch der Eltern bestanden ab 1947 eine evangelische und eine katholische Bekenntnisschule sowie eine christliche Gemeinschaftsschule. Die Aufteilung der verfügbaren Räume auf die verschiedenen Konfessionen führte nicht selten zum Streit – und manchmal sogar zum Schulstreik. Die Landesverfassung von 1950 verankerte dieses Recht auf Bekenntnisschulen. Darüber hinaus entstanden zahlreiche weiterführende Schulen in privater, d. h. vor allem kirchlicher Trägerschaft.
Zu Beginn der 1960er Jahre wurden Defizite des Bildungssystems erkennbar. Die überwiegende Zahl der Bevölkerung besaß lediglich einen Volksschulabschluss, Abitur und Studium waren nur einer Minderheit vorbehalten. Das Schlagwort „Bildungskatastrophe“ machte die Runde und verlangte nach Reformen. Bildung erhielt einen neuen Stellenwert – für die gestiegenen Anforderungen der Wirtschaft, für die politische Teilhabe in der Demokratie und für den sozialen Aufstieg. Zur Behebung des offensichtlichen Lehrermangels öffnete Kultusminister Paul Mikat 1963 den Lehrerberuf für Quereinsteiger*innen. Mit den so genannten „Mikätzchen“ und „Mikatern“ gelang es, die Schulversorgung zu garantieren. Das Modell war umstritten, aber so erfolgreich, dass es von anderen Bundesländern übernommen wurde. Es folgten strukturelle Reformen. Im Jahre 1968 wurde die achtklassige Volksschule in Grund- und Hauptschule aufgelöst. Fortan besuchten die nordrhein-westfälischen Schüler*innen nach der Grundschule eine der drei weiterführenden Schulen – Hauptschule, Realschule oder Gymnasium. In diesem Zusammenhang wurde auch die Konfessionalität des Schulwesens gelockert. Die Bildungsreform wurde schnell zu einem Politikum. Die Studentenbewegung der 1968er Jahre trug weitergehende Forderungen in die Schulen, unter den Schülerinnen und Schülern entwickelte sich in den 1970er Jahren eine eigene Protestbewegung.
Die Reformbereitschaft der 1970er Jahre stieß jedoch auch an ihre Grenzen. Die Einführung der Gesamtschule, gedacht als Überwindung des dreigliedrigen Schulsystems, blieb zunächst auf einige wenige Schulversuche – wie etwa die 1974 gegründete Laborschule Bielefeld – beschränkt. Ein Vorstoß der sozialliberalen Landesregierung zur Einführung der „Kooperativen Schule“ 1978 entfachte einen breiten Widerstand. Eltern- und Lehrerverbände, CDU und Kirchen initiierten unter dem Motto „Stopp Koop“ ein Volksbegehren gegen die Einführung der neuen Schulform. Im April 1978 zog der Landtag das neue Schulgesetz zurück.
Mit der Gesellschaft wandelte sich auch der Anspruch an Schule und Bildung. Die Integration von Migrantenkindern erweiterte das Fächerangebot. Türkisch-Lehrer werden seit 1995 ausgebildet, inzwischen können an nordrhein-westfälischen Schulen fast 20 Sprachen gelernt werden. Neu hinzugekommen ist auch der staatliche Islam-Unterricht. Die Initiative „Schulen ans Netz“ bemühte sich Mitte der 1990er Jahre darum, den Schulen den Anschluss an das digitale Zeitalter zu ermöglichen. Der PISA-Schock im Jahr 2000 feuerte die Reformdebatten neu an. Die individuelle Förderung und die Vermittlung von Kompetenzen anstelle von festen Lerninhalten rückten ins Zentrum. Der überparteiliche schulpolitische Konsens aus dem Jahr 2011 schließlich durchbrach die Dreigliedrigkeit des Schulsystems und ermöglichte eine neue Vielfalt an Schulformen. Seit 2014 werden Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet. „Inklusion“ ist dabei mehr als nur ein Schlagwort. Es ist Kennzeichen einer werteorientierten Gesellschaft, die Verschiedenheit anerkennt und Menschen ihren individuellen Bedürfnissen nach fördert.
Angesichts dieser Beharrungen drohte eine zunehmende Rückständigkeit. Es fehlte an Studienplätzen und Akademikerinnen und Akademikern. Auf Empfehlung des Wissenschaftsrates kam es in den 1960er Jahren zu einer Umorientierung der Hochschulpolitik. Bestehende Hochschulen, wie Düsseldorf und Aachen, wurden zu Voll-Universitäten ausgebaut, zudem sollten Neugründungen die dringend benötigten Studienplätze schaffen und gleichzeitig den akademischen Betrieb reformieren. Den Auftakt machte 1965 die Gründung der Ruhr-Universität Bochum, es folgte eine regelrechte Gründungswelle mit den Universitäten Dortmund (1968) und Bielefeld (1969) sowie den Gesamthochschulen Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal (1972). Als Letztes kamen die Fernuniversität Hagen (1972) sowie die private Universität Witten/Herdecke (1983) hinzu. Die Neugründungen erfolgten ganz bewusst in Regionen mit auffallendem Bildungsdefizit, allein im Ruhrgebiet entstanden auf diese Weise sechs neue Hochschulen. Seit Anfang der 1970er Jahre ergänzten zudem Fachhochschulen die akademischen Ausbildungsmöglichkeiten. Dank dieser Bildungsexpansion entwickelte sich Nordrhein-Westfalen aus der Rückständigkeit zu einer der hochschulreichsten Regionen Deutschlands und Europas.
Zunächst unabhängig und viel früher als der Ausbau des Hochschulwesens hatte sich durch gezielte Förderung in den 1950er Jahren eine dichte Forschungslandschaft entwickelt. An vierzig vornehmlich außeruniversitären Instituten wurde bereits Anfang der 1960er Jahre Grundlagenforschung betrieben, schwerpunktmäßig im naturwissenschaftlich-technologischen Bereich. An der Entwicklung der ursprünglichen „Kernforschungsanlage“ Jülich von 1956 zum heutigen interdisziplinären „Forschungszentrum“ lässt sich die ständige Neuausrichtung des Forschungslandes NRW ablesen.
Verkehrsland NRW
Die Auswirkungen des 2. Weltkriegs waren vor allem in der Rhein-Ruhr-Region verheerend: Wichtige Verkehrswege waren unbenutzbar, die meisten Brücken über große Flüsse zerstört und Verkehrsadern gelähmt, wodurch es zu massiven Versorgungsengpässen kam. Ab 1947 legte die Militärregierung ein Programm zur Wiederherstellung des Verkehrswesens auf, das dringend zur Ankurbelung der Wirtschaft benötigt wurde. Damals wurde der Grundstein für eine Entwicklung gelegt, die Nordrhein-Westfalen zu einem regelrechten Verkehrsland gemacht hat: Zu Lande, zu Wasser und in der Luft sorgt heutzutage ein gut ausgebautes Netz aus Straßen, Radwegen, Schienen, Wasserwegen und Flughäfen für moderne Mobilität.
Nordrhein-Westfalen ist ein Stau- und Pendlerland; mit seinen knapp 18 Millionen Einwohnern ist es unter den Bundesländern der Flächenstaat mit der höchsten täglichen Belastung im Straßenverkehr. Durch die geografisch zentrale Lage im Herzen Europas fließen auf nordrhein-westfälischen Bundesautobahnen, Bundes- und Landesstraßen insgesamt mehr als 25 Prozent des gesamtdeutschen Straßenverkehrs. Als „Ruhrschnellweg“ führt die A 40 zum Teil mitten durch die Revierstädte und ist damit die „Schlagader des Ruhrgebiets“. Sie ist die älteste und wichtigste Verkehrsachse des größten Ballungsraums in Nordrhein-Westfalen, die über ihre regionale Ausnahmestellung (als „B 1“) hinausgewachsen ist. In den frühen 1990er Jahren wurde die Strecke mit einem älteren Abschnitt der A 2 von Duisburg bis zur niederländischen Grenze zusammengelegt; seitdem gibt es sie als A 40. Zusammen mit diesem linksrheinischen Teilstück ist die A 40 heute zentraler Teil einer europäischen Verkehrsachse. Über die Grenze zu den Niederlanden bei Venlo führen ihre Fortsetzungen direkt nach Antwerpen und Rotterdam. Im Rahmen des Projekts „Still-Leben Ruhrschnellweg“ der RUHR.2010-Kulturhauptstadt wurden am 18. Juli 2010 die A 40 sowie Teile der A 52 und der B 1 für den motorisierten Verkehr gesperrt und für Besucher freigegeben. An 20.000 Biergarnituren feierten Gruppen, Vereine, Familien, Nachbarschaften und Institutionen ein fröhliches Fest. Nicht nur der motorisierte Verkehr prägt das Bundesland wie kein zweites, Nordrhein-Westfalen ist auch das Fahrradland Nr. 1 in Deutschland. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden rund 9.400 Kilometer Radwege angelegt. Seit 2007 ist das Radverkehrsnetz mit einer einheitlichen Wegweisung beschildert. Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundesland mit einem solchen flächendeckenden Netz.
Spätestens seit Eröffnung der ersten Teilstrecke (Deutz-Düsseldorf) der Köln-Mindener-Eisenbahn im Jahr 1845 begann die Erfolgsgeschichte des Schienenverkehrs auf dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen. Von der historischen Bedeutung des Verkehrsmittels Eisenbahn für die Region zeugt noch heute die Hohenzollernbrücke in Köln. Diese wurde zwischen 1907 und 1910 erbaut, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die 1859 in Betrieb genommene Dombrücke für das stark angestiegene Verkehrsaufkommen unzureichend ausgebaut war. Die feierliche Einweihung durch Kaiser Wilhelm II. erfolgte 1911. Die Hohenzollernbrücke verbindet seitdem als Eisenbahn- und Fußgängerbrücke den Kölner Stadtteil Deutz mit dem Hauptbahnhof und prägt mit ihrer auf den Chor des Doms verweisenden Ausrichtung das Stadtbild Kölns. Gegen Kriegsende von der Deutschen Wehrmacht zerstört, konnte der Wiederaufbau der Brücke nach mehreren Provisorien 1959 abgeschlossen werden. Seitdem ist die Hohenzollernbrücke ein bedeutender Verkehrsknotenpunkt im nordrhein-westfälischen Eisenbahnnetz.
Der Flughafen „Düsseldorf International“ ist das internationale Flughafendrehkreuz in Nordrhein-Westfalen und zugleich der drittgrößte Flughafen in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Entwicklung war nach der Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen im Jahr 1946 nicht absehbar. Bis 1949 nutzte die britische Militäradministration den Flughafen in Düsseldorf-Lohausen ausschließlich zu militärischen Zwecken. Im Folgejahr konnte der zivile Flugverkehr wieder aufgenommen werden. Das erste Flugzeug der Air France landete am 29. Juni 1950 am „Rhein-Ruhr-Flughafen“ in Düsseldorf. Mit wachsender internationaler Bedeutung des Düsseldorfer Flughafens seit Beginn der 1970er Jahre wurde das Gelände in Lohausen stetig erweitert und ausgebaut, u. a. wurden Start- und Landebahnen bis zu 3.000 m verlängert und das Terminalgebäude vergrößert. Der Anschluss an den regionalen S-Bahn- und überregionalen Fernbahnverkehr sowie die Eröffnung der Kabinen-Hängebahn „Sky Train“ im Jahr 2002 bildeten den vorläufigen Abschluss dieser Entwicklung.
Die Landesregierung setzt auf ein dezentrales Konzept für die Luftfahrtinfrastruktur. Neben Düsseldorf gibt es in Nordrhein-Westfalen noch fünf weitere Verkehrsflughäfen: Köln-Bonn, Münster-Osnabrück, Paderborn-Lippstadt, Dortmund und Weeze (Niederrhein). Für die strukturpolitische Entwicklung des Landes ist die Anbindung aller Regionen Nordrhein-Westfalens an das internationale Luftverkehrsnetz von besonderer Bedeutung. Die Standortgunst einer Region wird durch leistungsfähige Luftverkehrsangebote „vor der Haustür“ deutlich verbessert. Fliegen ist längst trotz aller Umweltproblematik zum Fortbewegungsmittel der Massen geworden. Entsprechend haben sich die Flughäfen in Nordrhein-Westfalen in den zurückliegenden Jahrzehnten rasant entwickelt und enorme Steigerungsraten bei den Passagierzahlen verzeichnet; ebenso hat der Gütertransport im Luftverkehr einen starken Aufschwung genommen.
Der Gütertransport auf dem Wasserweg hat in Nordrhein-Westfalen eine lange Tradition. Über den Rhein, einen der wichtigsten schiffbaren Flüsse Europas, ist das Land mit den großen Nordseehäfen Belgiens und der Niederlande verbunden. Der Zugang zu den deutschen Nordseehäfen wird der Schifffahrt über das gut ausgebaute Kanalnetz ermöglicht. Das sind in Nordrhein-Westfalen der schiffbare Teil der Ruhr, der Rhein-Herne-Kanal, der Dortmund-Ems-Kanal, der Wesel-Datteln- und der Datteln-Hamm-Kanal sowie in Ostwestfalen der Mittellandkanal.
Unter den zahlreichen Häfen der Wasserstraßen besitzt der Duisburger Rhein-Ruhr-Hafen eine herausgehobene Stellung. Er liegt an der Mündung der Ruhr in den Rhein und ist mit einer Gesamtfläche von 10 Quadratkilometern der größte Binnenhafen Europas und wichtiger Umschlagplatz für Waren und Güter, die von den Seehäfen, wie Hamburg und Amsterdam, über Duisburg in das europäische Hinterland weiter transportiert werden. Seinen historischen Ursprung hat der Duisburger Hafen im Stadtteil Ruhrort, von wo aus er sich bis in die Vorkriegszeit zu einem bedeutenden Handelshafen für Holz und Getreide entwickelte. Nach schwerer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau während des deutschen Wirtschaftswunders der 1950er Jahre erlangte er seine alte Bedeutung als Binnenhafen zurück. Als Folge der Krise in der Stahl- und Eisenindustrie der 1980er Jahre vollzog sich im Rhein-Ruhr-Hafen ein Strukturwandel, der mit der Eröffnung des ersten deutschen Freihafens im Binnenland 1990 einen bedeutenden Höhepunkt fand.
Energieland NRW
Nordrhein-Westfalen war und ist das Energieland schlechthin, das „Energieland Nummer eins“. Allein zwei der vier großen in Deutschland tätigen Energieversorger haben ihren Sitz in Nordrhein-Westfalen: E.ON (Essen) und RWE (Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG, Essen). Folglich hatte Energiepolitik in Nordrhein-Westfalen seit jeher einen hohen Stellenwert. Sie barg stets ein hohes Maß an Konfliktpotential. In der Koalitionskrise des Jahres 2003 zählte die Energiefrage zu den „Soll-Bruchstellen“ der rot-grünen Koalition. Der Förderung von Weiterentwicklungen in der Braunkohletechnologie und der weiteren sozialverträglichen Subventionierung des Steinkohleabbaus stand der Wunsch nach dem Ausbau regenerativer Energien gegenüber. Die Energiewirtschaft steht in starker Abhängigkeit von dem technischen Entwicklungsstand einer Gesellschaft. In dieser Hinsicht darf NRW insbesondere bei den erneuerbaren Energien als führend gelten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte – nach einer Ära der Stagnation in den ersten Nachkriegsjahren und einer intensiveren Beschäftigung mit Steinkohle und Wasserkraft – seit Mitte der 1950er Jahre wieder die Braunkohle. Diese ließ die RWE AG wieder günstiger Strom produzieren. Dieser Strom war billiger als der vom Konkurrenten VEW (Vereinigte Elektrizitätswerke Westfalen AG, Dortmund), der aus Steinkohle produziert wurde. Deshalb übernahm im Jahr 2000 die RWE die VEW. Das Braunkohlekraftwerk Frimmersdorf II avancierte im Jahr 1964 mit 2.000 Megawatt Leistung zum größten Kraftwerk der Welt. Im Landtag existierte in Energiefragen lange Zeit eine parteiübergreifende „Kohlefraktion“, die sich stets für den Erhalt des Kohleabbaus sowie der damit verbundenen Arbeitsplätze einsetzte. Der Kohleabbau, insbesondere der ab den 1950er Jahren einsetzende Tieftagebau, brachte im Rheinischen Braunkohlerevier zwischen Köln, Aachen und Mönchengladbach massive Eingriffe in die Naturlandschaft mit sich. Dies führte zu einer leidenschaftlichen öffentlichen Debatte und früh einsetzenden Überlegungen bezüglich einer Rekultivierung. Auf der anderen Seite war und ist der Braunkohleabbau ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Land Nordrhein-Westfalen. Während im April 2015 15.000 Bergleute aus Nordrhein-Westfalen und ostdeutschen Braunkohlerevieren für den Erhalt dieser Energieform demonstrierten, befürwortete eine Protestveranstaltung in Form einer „Anti-Kohle-Kette“ am Tagebau Garzweiler mit 6.000 Teilnehmern den baldigen Ausstieg aus der Kohleverstromung.
Während die Braunkohle dem Land bis auf Weiteres erhalten bleibt, wird der Steinkohleabbau, der nach der Ende 2015 erfolgten Stilllegung der Zeche in Marl 2016 nur noch in Bottrop (Zeche Prosper-Haniel) und Ibbenbüren betrieben wird, Ende 2018 endgültig auslaufen. 2014 förderten die drei genannten Bergwerke 7,6 Millionen Tonnen Steinkohle. Damit lag der Anteil der heimischen Steinkohle an der deutschen Primärenergiegewinnung in diesem Jahr bei knapp 6 Prozent. Die Beschäftigtenzahl im Steinkohlenbergbau NRW lag Ende 2014 noch bei 12.400. Dies belegt die Bedeutung, welche die Steinkohle für Land und Bund einst besaß. Andererseits erfolgte der Abstieg dieses Energieträgers kontinuierlich und unaufhaltsam: Zwischen 1950 und 1990 sank der Anteil der Steinkohle am deutschen Energieverbrauch (Primärenergien) von ca. 70 auf knapp 20 Prozent. Auch der Steinkohleabbau hatte für Natur und Umwelt gravierende Folgen: Das Ruhrgebiet wurde regelrecht „untertunnelt“, die Oberfläche der Landschaft senkte sich mancherorts um mehrere Meter ab. An diesen „Ewigkeitslasten“ trägt die Region, trägt das Land NRW noch heute – und auch in Zukunft.
Die zunächst als „saubere“ Zukunftsenergie gefeierte Atomkraft fand seit Mitte der 1950er, konkreter und intensiver dann ab den 1970er Jahren auch in Nordrhein-Westfalen ihren Niederschlag, mit namhaften und kostspieligen Versuchsprojekten. Diese waren letztlich jedoch zum Scheitern verurteilt und wurden nicht weiterverfolgt – insbesondere deshalb, weil sich die Einstellung der Landesregierung zur Atomkraft zwischenzeitlich grundlegend gewandelt hatte. So endete der 1985 fertiggestellte „Schnelle Brüter Kalkar“ ebenso als Milliardengrab wie der 1989 deaktivierte, ursprünglich als Innovation gefeierte Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop. Die 1956 konzipierte Kernforschungsanlage Jülich wurde 1990 in ein „Forschungszentrum“ umgewandelt, bei dem die Atomkraft zunehmend in den Hintergrund trat.
Die Wasserkraft kann als „Klassiker“ unter den erneuerbaren Energien gelten. Dieser „Strom, der immer fließt“, liefert seit über hundert Jahren zuverlässig, tageszeitunabhängig und CO2-frei Energie. Anders als Solaranlagen und Windkraft ist die Wasserkraft grundlastfähig. Energieversorger wie RWE unterhalten diverse Wasserkraftwerke in Nordrhein-Westfalen, vor allem an oberer Ruhr, Lippe, Sieg und im Münsterland. Wasserkraftanlagen sind wesentlich kleiner als solche für Gas oder Kohle. Sie sind daher auch für kommunale Versorger – etwa für Stadtwerke – attraktiv. Allein RWE kann mit seinen Kraftwerken an Flüssen und Stauseen ca. 400.000 Haushalte mit Strom versorgen. 2014 wurden deutschlandweit Windräder mit einer Leistung von 4.750 Megawatt installiert. Dies entspricht etwa der Leistung von vier Atomkraftwerken. Mit mehr als einem Zehntel des bundesweiten Zubaus von Windkraftanlagen lag Nordrhein-Westfalen 2015 unter den Bundesländern an vierter Stelle. Die Landesregierung öffnete Ende 2015 die Wälder für Windkraftanlagen mit einer Höhe von bis zu über 180 Metern. Außerhalb der Wälder wurde die Anlagenhöhe auf 150 Meter begrenzt. In Naturschutz und Gewerbegebieten blieb das Aufstellen von Windrädern untersagt. Das Umweltministerium beabsichtigt, den Anteil der Windenergie an der Stromerzeugung des Landes von vier Prozent im Jahr 2015 auf 15 Prozent im Jahr 2020 zu steigern. Dann könnten die ca. 3.000 Windkraftanlagen (2015) fünf Millionen Haushalte versorgen. Kritiker monierten eine voranschreitende „Verspargelung“ der Landschaft sowie eine Vernachlässigung des Vogelschutzes. Wenngleich der deutschlandweite Zubau von Photovoltaik-Anlagen (PV) zuletzt rückläufig war, stieg die Solarstromproduktion weiter an. 2014 erzeugten die deutschen PV-Anlagen ca. 35 Mrd. Kilowattstunden Strom. Sie deckten rechnerisch den Jahresstrombedarf von rund 10 Mio. Haushalten. Nordrhein-Westfalen hatte 2014 eine installierte PV-Leistung von fast 4.200 Megawattpeak und belegte damit unter den Bundesländern den dritten Platz. Der Energiebedarf in Nordrhein-Westfalen wird weiter wachsen. Alternative Energieträger und Gewinnungsverfahren, wie z. B. das umstrittene Fracking, müssen entwickelt und hinterfragt werden. Dabei liegen die Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen der Vereinbarkeit von wirtschaftlichen Interessen, der Versorgung der Haushalte mit ressourcenschonender Energie und dem Umweltschutz.
Migration in Nordrhein-Westfalen
Es war immer schon viel Bewegung im Rheinland, in Westfalen und in Lippe. Bis ins 20. Jahrhundert hinein verließen viele Menschen, wie etwa die Amerikaauswanderer oder die Hollandgänger, ihre Heimat im heutigen NRW. Andererseits hat sich das spätere Bundesland besonders seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zu einem Einwanderungsland entwickelt, das durch die aufstrebende Industrie und den Bergbau Menschen aus vielen Nationen anzog.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs zwang Millionen Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Ab Januar 1945 setzte der große Flüchtlingsstrom aus dem Osten ein, der vor der heranrückenden Roten Armee Richtung Westen zog. Diejenigen, die im Osten geblieben waren, wurden interniert und nach Kriegsende vertrieben. Die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebten diese Phase als eine von großer Gewalt und noch größeren persönlichen Verlusten geprägte Zeit, die ihre Biografie einschneidend mit bestimmte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit nahm die britische Besatzungszone, in der das Land Nordrhein-Westfalen entstehen sollte, nur wenige Flüchtlinge und Vertriebene auf, da die großen Zerstörungen in den industriellen Ballungsräumen einen weiteren Zuzug von Menschen sehr erschwerten. Mit dem Wiederaufbau und Erstarken der Wirtschaft im neuen Bundesland wurden jedoch viele Arbeitsplätze geschaffen. Nordrhein-Westfalen wurde damit zu einem attraktiven Zuwandererland, in das viele Flüchtlinge und Vertriebene strömten, die zunächst in Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen angesiedelt worden waren. In den 1950er Jahren hatte NRW bundesweit den höchsten Anteil an Flüchtlingen und Vertriebenen, die sich hier eine neue Existenz aufbauten.
Die Flüchtlinge und Vertriebenen deckten schon bald nicht mehr den Arbeitskräftebedarf der Industrie. Ende 1955 wurde ein erstes Abkommen mit Italien zur Anwerbung von italienischen Arbeitskräften für die deutsche Industrie geschlossen. Un- und angelernte Arbeiter, vor allem für schmutzige und schwere Arbeiten, wurden über die Arbeitsverwaltungen in Deutschland und der Partnerländer (Italien, Portugal, Spanien, Griechenland, Türkei, Jugoslawien) angeworben. 1964 stieg mit dem Portugiesen Armando Rodrigues de Sá der millionste sogenannte „Gastarbeiter“ in Köln aus dem Zug und erhielt als Willkommensgeschenk ein Zündapp-Mokick. Im Zuge der Ölkrise von 1973, die auch weitreichende arbeitsmarktpolitische Auswirkungen hatte, kam es zu einem Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte. Mit Zunahme der Arbeitslosigkeit in Deutschland wurde 1983 das Rückkehrhilfegesetz geschaffen, das finanzielle Anreize für die Rückwanderung der Arbeiter in ihre Herkunftsländer bieten sollte. Die meisten ausländischen Beschäftigten blieben jedoch auf Dauer und integrierten sich in die deutsche Gesellschaft. Aus dem anfänglichen Nebeneinander wurde im Laufe der Jahre immer öfter ein Miteinander, das jedoch nicht immer konfliktfrei verlief. So hat die zweite und dritte Generation, die Kinder und Enkel der ehemaligen „Gastarbeiter“ versucht, sich die eigene Kultur zu bewahren. Heute gehören mitgebrachte Traditionen wie die kulinarischen Angebote (Pizza, Döner) der früheren Arbeitsmigranten zum Alltag der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen. Mancherorts haben sich Subkulturen gebildet, die die Stadtbilder nachhaltig prägen. In den Ruhrgebietsstädten sind ganze Stadtteile wie z. B. Duisburg-Marxloh kulturell vom Phänomen der Migration geprägt. Der Familiennachzug der ersten Zuwanderer – überlagert seit Ende der 1980er Jahre durch den Zuzug von Asylbewerber*innen und Aussiedler*innen – hat dazu geführt, dass Deutschland zum Einwanderungsland geworden ist. 2014 hatten 23,6 % der Bürger*innen in Nordrhein-Westfalen einen sogenannten „Migrationshintergrund“ (Quelle: IT.NRW). Dieser sperrige Begriff – ursprünglich als Ordnungskriterium der amtlichen Statistik eingeführt – bezeichnet heute ein komplexes gesellschaftliches Phänomen mit einer breiten Diskussion und großen politischen Herausforderungen.
Zwangen politische Ereignisse die deutsche Bevölkerung nach 1945 aus ihrer angestammten Heimat, sind es heute vor allem die Länder im Nahen Osten, in denen viele Menschen ihr Leben nicht mehr in Sicherheit gestalten können. Der internationale Wanderungsstrom setzt sich unter immer neuen, sich ständig verändernden Bedingungen fort. Nordrhein-Westfalen nimmt aktuell eine große Zahl von Flüchtlingen auf, die hier eine neue Heimat finden sollen. Ihre Integration ist das große Ziel – dafür setzen sich nicht nur Politik und Verwaltung, sondern auch die Kirchen, die verschiedenen Wohlfahrtsverbände und nicht zuletzt Tausende von ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern im ganzen Land ein. Denn nur als integrierte Mitbürgerinnen und Mitbürger können die Geflüchteten ein Leben in Frieden und Freiheit führen und die kulturelle Vielfalt des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen bereichern. Integrationsminister Rainer Schmeltzer formulierte die Herausforderungen auf dem diesjährigen Integrationskongress in Solingen, der ganz im Zeichen der Flüchtlinge stand, so: „2016 muss das Jahr der Integration werden. Die Integration und Teilhabe von Geflüchteten ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das sind große Herausforderungen. Es gibt aber keinen Grund für Pessimismus. NRW ist ein Land mit einer erfolgreichen Einwanderungsgeschichte.“
Kultur und Brauchtum
Kultur und Bräuche helfen Menschen, sich mit der eigenen Gruppe zu identifizieren und ein gemeinschaftliches Empfinden herzustellen. Sie sind Ausdruck von Lebens- und Denkweisen; Kultur bezeichnet die Gesamtheit der gestaltenden Lebensäußerungen und Kommunikationsformen des Menschen. Nach dem Krieg erlebte die Kultur in Nordrhein-Westfalen trotz der großen Zerstörungen einen raschen Aufschwung. Notdürftig wiederhergerichtete Spielstätten der Opern- und Schauspielhäuser, provisorische Ausstellungsräume in kaputten Museen, defekte Kinosäle – alle Angebote erhielten großen Zuspruch vom Publikum. Auch traditionelle Volksfeste fanden bald wieder statt, wenn auch unter improvisierten Bedingungen. So musste zum Beispiel der erste Düsseldorfer Nachkriegs-Schützenkönig aufgrund des geltenden Waffenverbots ausgelost werden. Nicht zuletzt Kulturformen und Bräuche dieser Art trugen dazu bei, dass sich in den letzten 70 Jahren ein Wir-Gefühl entwickeln konnte, eine kulturelle Identität. Heute ist die Kulturszene Nordrhein-Westfalens geprägt durch ihre bunte Vielfalt; Offenheit gegenüber anderen Kulturen wird hier gelebt. Neue Formen des Brauchtums, wie die jährliche Parade zum Christopher-Street Day in Köln, haben ihren Platz im Festkalender gefunden. Seit den 1990er Jahren unterstützt die nordrhein-westfälische Landesregierung mit dem Förderprogramm „Regionale Kulturpolitik“ die Kulturlandschaften.
Vor allem im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst wurden in NRW früh Akzente gesetzt. Bereits 1961 wurde die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf von der Landesregierung gegründet. Sie sollte dem noch jungen Bundesland ein kulturpolitisches Profil verleihen und das Identitätsbewusstsein der Bewohner*innen für das heterogene Land heben. Die Geschichte der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen begann 1960 mit dem Ankauf von 88 Werken Paul Klees, die den Grundstock der Sammlung bildeten. Von 1962 bis 1990 war Werner Schmalenbach ihr erster Direktor. Er baute eine qualitätvolle Sammlung der Klassischen Moderne auf und schuf damit die einzige auf moderne Kunst spezialisierte Landessammlung in Deutschland. Der Neubau mit der markanten Fassade aus poliertem schwarzen Naturstein wurde 1986 eröffnet. Kunstmuseen von Weltrang finden sich nicht nur in Düsseldorf; das Folkwang-Museum in Essen im eleganten Chipperfield-Bau präsentiert bedeutende Werke der klassischen Moderne, die Pop-Art-Sammlung im Kölner Museum Ludwig gilt als herausragend. Insgesamt hat NRW über 900 Museen zu bieten; mindestens genauso interessant wie die „hohe“ Kunst sind auch die vielen Industrie- und Freilichtmuseen, vom Ruhrmuseum im Weltkulturerbe Zeche Zollverein bis zum LWL-Freilichtmuseum Detmold. Neben erstklassigen Orchestern (u. a. WDR-Sinfonieorchester, Essener, Bochumer und Duisburger Philharmoniker) und Opernhäusern, deren Angebot v. a. im Ruhrgebiet besonders dicht ist, finden sich in NRW auch Ausbildungsstätten für den künstlerischen Nachwuchs. Zu den renommierten Musikhochschulen des Landes zählen die Robert-Schumann Hochschule in Düsseldorf, die Folkwang-Hochschule in Essen, die Hochschule für Musik und Tanz in Köln und die Hochschule für Musik in Detmold. Im Jahr 1946 als Nordwestdeutsche Musikakademie Detmold gegründet, erfolgte 1972 die Zusammenlegung mit den Musikhochschulen Münster und Dortmund. Heute studieren in Detmold ca. 750 Studentinnen und Studenten ein breites Spektrum an Fächern.
NRW hat eine reiche Theaterszene, von bekannten Schauspielhäusern in Bochum und Mülheim bis hin zu Kabarett- und Kleinkunstbühnen. Eine besondere Geschichte haben die Ruhrfestspiele in Recklinghausen, heute eines der traditionsreichsten Theaterfestivals Europas. Alles hatte in der Nachkriegszeit begonnen: Hamburger Theaterleute fuhren im Winter 1946/47 ins Ruhrgebiet, um Kohlen für die Beheizung ihrer Bühnen zu erbitten. Beschäftigte der Zeche König Ludwig in Recklinghausen halfen ihnen mit einer großzügigen Spende und nahmen mit dem Transport der Kohlen an den britischen Besatzungsbehörden vorbei ein großes Risiko auf sich. Zum Dank kamen die Theaterleute im Sommer 1947 zu einem Gastspiel zurück und legten damit den Grundstein für die zukünftigen Ruhrfestspiele. Die Erlöse aus den Eintrittskarten gingen an die Unterstützungskasse für Berginvaliden der Zeche König Ludwig. Die Stadt Recklinghausen und der Deutsche Gewerkschaftsbund gründeten eine Gesellschaft zur Durchführung der Ruhrfestspiele und riefen die Veranstaltung, die sich besonders an Arbeiter richtete, jährlich ins Leben. Finanzielle Unterstützung leistete das Land Nordrhein-Westfalen ab 1949. Alle Künste vereint seit 2002 die Ruhrtriennale; die Industriedenkmäler der Region verwandeln sich dabei in effektvolle Kulissen für Musik, Theater, Literatur, Film, Bildende Kunst, Tanz und Performance. Spartenübergreifende Produktionen, Uraufführungen und Neuinszenierungen stellen einen Bezug zur jeweiligen Spielstätte her. So werden Schauspiel und Oper in ehemaligen Maschinenhallen und Kokereien mit Entwicklungen in der Bildenden Kunst, der Pop- und der klassischen Musik verbunden. Unter dem Titel „Ruhr.2010 – Kulturhauptstadt“ Europas, präsentierte das Ruhrgebiet ein umfangreiches Programm von Theateraufführungen, Konzerten, aber auch zahlreichen Bürgerfesten. Das Kulturhauptstadtprojekt half dem Ruhrgebiet, sich als europäische Metropolregion zu etablieren.
Zu den größten regionalen Festen in Nordrhein-Westfalen gehört sicherlich das Schützenfest, das in Neuss am Rhein besonders groß gefeiert wird. Mit mehr als 7.000 marschierenden Schützen und ca. 1.600 Musikern gilt es als das weltweit größte Schützenfest, das von einem einzigen Schützenverein organisiert wird. Das Schützenfest ist mit seiner Königsparade, den Umzügen und dem Königsschießen ein gesellschaftlicher Höhepunkt in Neuss und Umgebung und zieht bis zu einer Million Besucher*innen an. Nicht nur im Rheinland, auch in Westfalen und Lippe wird bis in Stadtteile und Dörfer hinein das Schützenfest gefeiert. Eines der kleinsten Schützenfeste im Land findet in der Bauernschaft Horn im münsterländischen Herbern statt. Dort wird nur alle zwei Jahre ein König ermittelt, was die Veranstaltung überschaubar gestaltet.
Arbeitswelten in NRW
Als Nordrhein-Westfalen gegründet wurde, trugen besonders die Städte des Ruhrgebiets einen schwarzgrauen Schleier. Hunderte Schlote schleuderten täglich grauweißen Qualm in die Luft. Allgegenwärtig war die Montanwirtschaft, die das Bild der Städte und einen Großteil der Arbeitswelten der dort lebenden Menschen bestimmte. Gleichzeitig fuhren Pferdefuhrwerke und Traktoren in den landwirtschaftlich geprägten Gegenden die Ernte ein. Im ganzen Land gab es unterschiedliche Wirtschaftsregionen mit ihren überlieferten Eigenheiten. Die letzten 70 Jahre haben die Arbeitswelten der Menschen völlig verändert. Arbeitswelten sind Bereiche, in denen Menschen ihr berufliches Leben verbringen. Sie verdienen dort das Einkommen für ihren Lebensunterhalt. Arbeitswelten sind eng mit der Wirtschaftsstruktur eines Landes verwoben. Verändert sich diese, gestaltet sich auch die Gewichtung der beruflichen Perspektiven neu. Das Land Nordrhein-Westfalen unterliegt seit vielen Jahrzehnten einem Strukturwandel. Traditionelle Sektoren der Wirtschaft verlieren zunehmend an Bedeutung, neue Beschäftigungszweige sind entstanden. Bis weit in die 1970er Jahre hinein arbeiteten viele Menschen im produzierenden Gewerbe. Sinnbild für die Wirtschaft Nordrhein-Westfalens war ursprünglich das Ruhrgebiet, größter Ballungsraum Deutschlands, mit seinem Steinkohlenbergbau, der Eisen- und Stahlindustrie sowie zahlreicher anhängender Branchen. Doch auch in anderen Regionen des Landes gab es bedeutende Industriezweige. Im Siegerland und im Sauerland waren es der Erzbergbau und die Metallverarbeitung, im Westmünsterland und am Niederrhein die Textilindustrie, im Bergischen Land die Kleineisenindustrie sowie der Maschinenbau, die Metallverarbeitung und die Chemieindustrie. Im Aachener Revier spielten der Braunkohlentagebau und in Ostwestfalen-Lippe die holzverarbeitenden Betriebe eine große Rolle. Darüber hinaus fanden viele Menschen Arbeit im privaten und öffentlich-rechtlichen Dienstleistungssektor.
Krisen und Reformen in der Wirtschaft leiteten die Umgestaltung der alten ökonomischen Struktur des Landes ein. Sie sind ursächlich dafür, welche Arbeitswelten es im heutigen Nordrhein-Westfalen gibt. Nach dem Wiederaufbau des Landes ab 1946 und dem damit verbundenen Wirtschaftswunder der 1950er und frühen 1960er Jahre veränderten die Textilkrise, die Kohlekrise und mehrere Ölkrisen die Arbeitswelten der Menschen und erzwangen einen Strukturwandel. Besonders umfassend traf es den staatlich subventionierten Steinkohlebergbau. Dieser wurde seit den 1990er Jahren deutlich zurückgefahren und soll 2018 enden. Viele tausende Bergleute ließen sich seitdem umschulen, um in einer neuen Branche ihr Einkommen zu verdienen. Zu gravierenden Einschnitten im Berufsleben der Menschen in Nordrhein-Westfalen kommt es auch immer wieder durch Umstrukturierungen länger ansässiger Unternehmen.
Wirtschaftskrisen ziehen Reformen und neue, zukunftsorientierte Ausrichtungen nach sich. Dies bedeutet aber auch die Chance zu einem Neuanfang. Während auf der einen Seite Industriezweige wegbrechen, entstehen auf der anderen Seite Beschäftigungsmöglichkeiten in neuen Bereichen des produzierenden Gewerbes und im Dienstleistungssektor. Durch Modernisierungsprozesse haben sich in den letzten Jahrzehnten Arbeitswelten stark verändert: Stand am Anfang die Handarbeit im Vordergrund, beschleunigten bald automatische Verfahren die Produktionsabläufe.
Aktuell vollzieht sich ein Wandel, dessen Ausmaße noch gar nicht abzusehen sind: Durch Digitalisierung verwandeln sich Arbeitsplätze und -märkte grundlegender als je zuvor. Dabei gewinnen Branchen der Softwareindustrie und IT-Dienstleister, die auch in NRW am Wachstum des elektronischen Sektors einen großen Anteil haben, zunehmend an Bedeutung. Andere Branchen, die wie die Montanindustrie das Bundesland seit dem vorletzten Jahrhundert geprägt haben, werden immer weiter verlieren und schließlich aus den Arbeitswelten fast verschwinden. Nicht nur die Industrie, auch die Verwaltung als großer Arbeitgeber in NRW, hat einschneidende strukturelle Veränderungen erfahren. Durch Reformen verringert sich seit Jahrzehnten die Zahl der Arbeiter*innen, der Angestellten und der verbeamteten Personen im öffentlichen Dienst. Dafür steigt die Anzahl der Angestellten und auch der Selbstständigen im privatwirtschaftlichen Sektor. Dieser Trend dokumentiert den Wandel von der industriell geprägten Gesellschaft hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Der grundlegende Strukturwandel macht sich mancherorts sogar im Stadtbild bemerkbar, und zwar überall dort, wo alte Industriebauten modernisiert und einer neuen Nutzung zugeführt wurden. So wurde beispielsweise der 1936 erbaute, denkmalgeschützte Getreidespeicher der Rheinisch Westfälischen Speditionsgesellschaft im Duisburger Innenhafen für den Bau des Landesarchivs um einen (Magazin-)Turm und einen wellenförmigen Bürotrakt erweitert. Wo früher ein Lager für Schüttgut betrieben wurde, werden heute Urkunden, Amtsbücher, Akten und audiovisuelle Unterlagen als Zeugnisse der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen aufbewahrt und für alle Interessierten zugänglich gemacht.
Nach 70 Jahren präsentiert sich Nordrhein-Westfalen als ein wandlungsfähiges, wirtschaftlich starkes Land mit einer Vielfalt an Arbeitswelten in der Industrie und im Dienstleistungssektor, bis hin zu Startups und Hidden Champions, besonders bei mittelständigen Unternehmen. Die Schwerpunkte der heutigen Industrie verlagern sich von der Montanwirtschaft hin zum Maschinen- und Automobilbau, zur Elektrotechnik und Elektroindustrie, zur Chemie- und Kunststoffindustrie und zur Energiewirtschaft. Die konventionelle Landwirtschaft hat noch immer eine große Bedeutung, nicht nur als Zulieferer für die Lebensmittelindustrie. Daneben entwickelt sich der Ökolandbau in NRW als zukunftsfähige Alternative. Im Dienstleistungssektor arbeiten viele Menschen im Handel, in der Finanzwirtschaft, in der Medienbranche sowie im Tourismus und im Gastgewerbe. Ein leistungsstarker öffentlicher Sektor soll hierfür günstige Rahmenbedingungen schaffen.
Sportland NRW
Wohl kaum ein Thema „bewegt“ so viele Menschen in Nordrhein-Westfalen wie der Sport; egal ob aktiv in Schule und Freizeit, ob als Fan oder als Profisportlerin oder -sportler. Mehr als 5 Millionen Mitglieder in 19.000 Sportvereinen zählt der 1947 gegründete Landessportbund NRW aktuell. NRW feiert sich als sport- und insbesondere fußballbegeistert. Landesregierungen wie Kommunen setzen in der Außendarstellung stark auf den Faktor Sport.
Die Sportlandschaft auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes NRW war durch NS-Herrschaft und Krieg arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Dabei hatte der organisierte Sport eine lange Tradition. Sie ging vor allem auf Turnvereine im 19. Jahrhundert zurück, die sich oft auch politisch engagierten. Angestellte, verbeamtete Personen und Arbeiter*innen betätigten sich gemeinsam oder in jeweils eigenen Sportvereinen mit Untergruppen für verschiedene Sportarten vom Handball bis zum Schach. Es gab Sportvereine der Polizei, der Feuerwehr und sogar der Post, aber auch Werksvereine und Vereine des Arbeiterwassersports. Aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der NS-Zeit sollte der Landessportbund NRW „parteipolitisch, konfessionell und rassisch neutral“ sein – so bestimmte es § 1 seiner Satzung. Er zählte 1955 schon 900.000 Mitglieder und verstand sich ganz selbstbewusst als „gesellschaftspolitischer Faktor“. Diese Funktion wurde noch gestärkt, als die Landesregierung den Sport 1992 zum Staatsziel erhob.
Im Breitensport steht seit jeher neben der Leistung die Geselligkeit im Vordergrund. Hier bietet der Sport ein soziales Netzwerk mit zum Teil familienähnlichen Bindungen. Auf den Punkt gebracht hat dies Willi Weyer, der langjährige Präsident des Landessportbundes NRW (1957-87) und des Deutschen Sportbundes (1974-86): „Für das Millionenheer der Sporttreibenden […] gelten nicht die Bedingungen der Eisprinzessinnen oder der Fußballmillionäre. […] Ich meine: noch wichtiger als alle Produktivitätssteigerungen ist etwas anderes: die Freude, die Fröhlichkeit, die Heiterkeit, die Ausgelassenheit, der Lebensmut, kurzum – das Spielerische des Sports – das Menschsein im Sport.“ Daher versuchten die Landesregierungen gezielt, den Sport zu nutzen, um verschiedene gesellschaftliche Gruppen besser zu erreichen: Sie legte seit den 1970er Jahren spezielle Programme u. a. für Frauen, für Schichtarbeiter*innen, für Menschen mit Behinderungen (häufig betraf das noch Kriegsversehrte aus dem Zweiten Weltkrieg), für Spätaussiedler aus Osteuropa und für ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie deren Familien auf. So bildete der Landessportbund einen eigenen Ausschuss für „ausländische Mitbürger“. Die Maßnahmen waren unterschiedlich erfolgreich. Das Zahlenverhältnis von Frauen und Männern, die in Sportvereinen organisiert sind, ist zum Beispiel seit fast 40 Jahren gleich geblieben: Es sind rund zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen.
Kinder und Jugendliche sind auch Hoffnungsträger des Leistungssports. Die Talentförderung sieht vor, Kinder durch gezieltes Leistungstraining zu Spitzensportlern heranzubilden. Dafür standen schon im Jahr 1980 in Nordrhein-Westfalen 40 Landes- und 10 Bundesleistungszentren zur Verfügung. Hinzu kamen Sportinternate etwa in Warendorf für modernen Fünfkampf und in Bochum für Leichtathletik. Im Zeichen des „humanen Leistungssports“ sollen gleichzeitig die schulische und berufliche Ausbildung der künftigen Kader nebenherlaufen. Vom Leistungssport versprechen sich Funktionäre wie Regierung eine „Zugwirkung“ für den Breitensport. Auch für das 21. Jahrhundert hatte die Landespolitik große sportpolitische Ambitionen: Durch sieben Großereignisse in den Jahren 2005 bis 2007 sollte NRW zum „Sportland Nr. 1“ aufsteigen. Der Titel eines entsprechenden Antrages von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Landtag lautete: „Die Welt zu Gast im Sportland NRW.“ Aus Nordrhein-Westfalen kommen nicht nur etliche international erfolgreiche Fußballclubs; auch in der 1. und 2. Fußballbundesliga sind Vereine aus dem Bundesland überproportional vertreten. Daneben weist das Land eine Vielfalt an Spitzenleistungen in den unterschiedlichsten Disziplinen auf. Ein Beispiel aus dem Bereich Kraftsport ist der Gewichtheber Rolf Milser. Der in Duisburg aufgewachsene Olympiasieger und mehrfache Weltmeister feierte in den 1970er und 80er Jahren eine beispiellose Erfolgsserie. Seit 2007 werden jährlich die besten Sportlerinnen und Sportler aus Nordrhein-Westfalen durch die Landesregierung und den Landessportbund im Rahmen der Felix-Awards ausgezeichnet. Zu den Gewinnerinnen und Gewinnern der letzten Jahre gehörten u. a. Silke Spiegelburg (Stabhochsprung), Aline Focken (Ringen) und Karl-Richard Frey (Judo). Auch weltbekannte Fußballstars wie der Nationaltorhüter Manuel Neuer sowie die Nationalspieler Marco Reus und Mats Hummels sind in Nordrhein-Westfalen geboren, haben hier in Jugendmannschaften trainiert und wurden sportlich gefördert. Sie alle erhielten den Fußball-Felix (Neuer 2010, Reus 2012/13, Hummels 2014).
Mehrfach zur NRW-Sportlerin bzw. zum NRW-Sportler des Jahres gekürt wurden die Degenfechterin Britta Heidemann (2008 und 2012) und der Tischtennisspieler Timo Boll (2009-2011). Seit 2008 gibt es beim Felix-Award auch die Kategorie „Sportlerin bzw. Sportler des Jahres“ im Behindertensport, der in NRW ebenfalls verbandsmäßig organisiert ist. Der Behinderten- und Rehabilitationssportverband Nordrhein-Westfalen e.V. stellt mit ca. 230.000 Mitgliedern in über 1.500 Vereinen rund ein Drittel aller Mitglieder im Deutschen Behindertensportverband e.V. Im Behindertensport wird ebenfalls zwischen Breiten- und Leistungssport unterschieden.
Als Fazit aus Breiten-, Leistungs- und Spitzensport lässt sich mit der ehemaligen NRW-Sportministerin Ilse Brusis sagen: „Das Sportland Nordrhein-Westfalen – das sind wir alle!“
Freizeit, Konsum, Tourismus in NRW
Mit der boomenden Nachkriegswirtschaft und der Beschränkung der Arbeitszeiten entstand bald Raum für Freizeit und Konsum. Neue Bedürfnisse wurden geweckt und durch ein ständig wachsendes Angebot gestillt.
Die Zeit, die jeder Mensch zur freien Verfügung hat, ist in der Regel seit den letzten Jahrzehnten aufgrund der Verkürzung der Wochenarbeitszeit (5-Tage-Woche) und der Erleichterung der alltäglichen Arbeiten durch technische Hilfsmittel erheblich angewachsen. Seit Gründung des Landes gibt es aber nicht nur mehr Freizeit, sondern auch das Freizeitverhalten und die Möglichkeiten der Gestaltung haben sich verändert. Neben Radio hören und Gartenarbeit erfreute sich der klassische Sonntagsausflug mit der Familie, der je nach Grad der Motorisierung in die nähere oder weitere Umgebung führen konnte, bereits in den 1950er Jahren besonderer Beliebtheit. Ein Höhepunkt dabei war nicht nur für Rheinländer eine Ausflugsfahrt auf dem Rhein mit Besuch des Drachenfels. Hinzu kamen gelegentliche Tanzveranstaltungen sowie Kirmes- (z. B. Sterkrader Fronleichnamskirmes, Soester Allerheiligenkirmes), Zoo- und Kinobesuche. Bereits Mitte der 1960er Jahre suchten Stadt- und Landesplaner nach Ideen, um die Regenerationsphasen der Menschen nicht allein der immer stärker werdenden Anziehungskraft des Fernsehens zu überlassen. 1960 verfügte ca. 1/4 aller Haushalte in NRW über ein eigenes Gerät.
Nachdem in den 1950er Jahren vor allem schnell Wohnraum für Ausgebombte und Flüchtlinge geschaffen werden musste, begann man nun, sich mit der Verbesserung des Wohnumfelds und der Freizeitinfrastruktur intensiver zu beschäftigen. Ein Ergebnis sind die Revierparks, die mit Sport -, Spiel- und Grünanlagen zur Erholung der Bevölkerung des Ruhrgebiets beitragen sollten. In ganz Nordrhein-Westfalen bot bald der Bau von Hallenbädern, Mehrzweckhallen und Bürgerhäusern als Treffpunkte und Veranstaltungsstätten für Vereine und der Einsatz von Bücherbussen verschiedene wohnortnahe Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Ebenso in den 1960er Jahren eröffneten erste Freizeitparks im Sauerland (Fort Fun) sowie in der Nähe von Brühl (Phantasialand) und markierten den Auftakt der Erlebnis- und Event-Freizeitgestaltung. Die in den letzten Jahrzehnten entstandenen Spaß- und Erlebnisbäder mit Wellnessangeboten, die Skihallen (Bottrop und Neuss), Tauchgasometer (Landschaftspark Nord in Duisburg) und Kletteranlagen bieten die Möglichkeit, wetter- und jahreszeitunabhängig den verschiedensten Aktivitäten nachzugehen. Hinzu kommt ein vielfältiges Angebot kultureller Großveranstaltungen wie z. B. die „Extraschicht“ im Ruhrgebiet.
Nach Kriegsende kam es darauf an, sich mit dem Notwendigsten auszustatten, selbst durch Stehlen von Kohle oder Lebensmitteln (dem sog. „Fringsen“). Kurz nach der westdeutschen Währungsreform im Sommer 1948 waren die Schaufenster jedoch wieder prall gefüllt. Neben Lebensmitteln des täglichen Bedarfs – erste Supermärkte wurden in den 1950er Jahren eröffnet –, boten die Großstädte und Ballungszentren schon bald wieder eine breitere Warenpalette. „Essen, die Einkaufsstadt“ wurde für das Ruhrgebiet zum Zentrum des Einzelhandels. 1960 überstieg dessen Umsatz sogar den des Bergbaus. Die Innenstädte der größeren Städte boten spätestens seit der Zeit des „Wirtschaftswunders“ ihrer kaufkräftigen Kundschaft eine immer größer werdende Warenvielfalt. Das jeweilige Stadtbild war damals wie heute nicht selten ein Spiegel der wirtschaftlichen Gesamtsituation der Region. Luxusgüter wurden erschwinglich, es kam zu einer Nivellierung sozialer und regionaler Gegensätze durch das Phänomen des Massenkonsums und zur Technisierung der Haushalte. Seit dem Ende der 1950er Jahre steht die Verbraucherzentrale NRW den Konsumenten mit Beratung und Information zur Seite. Veränderte Lebensstile hatten Auswirkungen auf Angebot und Nachfrage. Nach amerikanischem Vorbild wurden in den 1990er und 2000er Jahren Einkaufszentren errichtet. Im größten europäischen Einkaufszentrum, dem CentrO Oberhausen, finden seit 1996 260 Geschäfte Platz. Auf dem Gelände der Gutehoffnungshütte errichtet, ist es zugleich Zeichen des Strukturwandels. Der Einkaufsbummel in historischer Atmosphäre, am Prinzipalmarkt in Münster oder zwischen Fachwerkhäusern in Detmold, erfreut sich jedoch ebenso großer Beliebtheit. Auch Wochenmärkte, Weihnachts- und Kunsthandwerkermärkte verzeichnen hohe Besucherzahlen. Viele der bekanntesten Einzelhandelsketten der Lebensmittelbranche (z. B. Aldi und Rewe) haben in NRW ihren Firmensitz. Auch als Medienstandort bietet das Bundesland den Konsumenten vieles: Köln ist die Heimat deutschlandweiter Fernsehsender (WDR, RTL) und Produktionsstätten; auch die Lokalsender der Städte und Regionen (z. B. Radio Oberhausen) werden häufig eingeschaltet. Als Werbehochburg des Landes gilt traditionell Düsseldorf. Trotz des schnelllebigen Verbrauchs in Zeiten des Online-Shoppings bedeutet Konsum heute mehr denn je auch Erlebnis und Lebensqualität.
Die Bedeutung des Tourismus als Wirtschaftsfaktor hat in den letzten Jahrzehnten in NRW auch im bundesweiten Vergleich deutlich zugenommen: Industrie und Tourismus – im Kernland der Industrialisierung schließt sich das nicht aus. Unterschiedliche Natur- und Kulturlandschaften bieten eine große Bandbreite von Erholungs- und Erlebnisangeboten. Das Rheinland zählt zu den ältesten Reiseregionen Deutschlands und hat sich diese Tradition bis in die Gegenwart bewahrt. Auch die Mittelgebirge – Eifel, Sauerland und Teutoburger Wald – sowie das Münsterland zeigen ihre besonderen landschaftlichen Reize. Daneben vermarkten Heilbäder und Kurorte gesundheitsfördernde Therapien und werben Städte von Aachen bis Minden mit ihren Highlights um die Gunst der Reisenden.
Das „Wirtschaftswunder“, mit dem längere Urlaubszeiten und Einkommensverbesserungen einhergingen, hat den Tourismus stark verändert: Lagen Anfang der 1950er Jahre Gesellschaftsreisen mit Bahn und Bus im Trend, erlebten mit der allgemeinen Motorisierung die Individualreisen einen Aufschwung. Allerdings bekamen die Ferienorte in Nordrhein-Westfalen mit der nun einsetzenden „Reisewelle“ Konkurrenz: die Touristen zog es weiter in die Ferne. Seit den 1970er Jahren stieg die Zahl der Menschen, die ihre Ferien im Ausland verbringen, erheblich an. Der Kurztrip in die Umgebung wurde zur Option für den Zweiturlaub. Auf der anderen Seite richtete sich die Fremdenverkehrsreklame in NRW gezielt an ausländische Gäste. Die „Hollandwerbung“ war dabei besonders erfolgreich.
Die traditionellen Ferienregionen besitzen noch immer große Popularität, aber es kommen neue Ziele hinzu. Nationale Monumente wie das Hermannsdenkmal in Detmold oder das Kaiser-Wilhelm-Denkmal an der Dortmunder Hohensyburg, Verkehrsbauten wie das Wasserstraßenkreuz in Minden, Talsperren wie der Möhne- oder der Biggesee, mondäne Kuranlagen wie in Bad Oeynhausen oder Bad Salzuflen sind inzwischen durch Orte ergänzt, die einen neuen Blick auf die historische Entwicklung des Landes zulassen. Das Wandeln auf den Spuren einer vergangenen Industrieepoche gehört ebenso dazu, wie die Entdeckung von Stätten des UNESCO-Weltkulturerbes (Aachener und Kölner Dom, Schloss Corvey, Schlösser Augustusburg und Falkenlust, Zeche Zollverein). Es wird weniger gekurt, dafür gewinnen das Radfahren und das Wandern an Attraktivität zurück. Beliebt bleiben Städtereisen in Kulturmetropolen wie Köln, Münster oder die Ruhrgebietsstädte und in die Einkaufs- und Erlebniszentren. Erholung und Event – beides hat NRW zu bieten.
Schwieriges Erbe
Die Gründung des Landes Nordrhein-Westfalen sollte nicht weniger schaffen als die Umwandlung einer Diktatur in eine Demokratie. Dieser Prozess stellte die Zeitgenossen vor viele Herausforderungen. Auf welche Weise sollten beispielsweise Gesellschaft, Politik und Wirtschaft von den Einflüssen des Nationalsozialismus befreit werden? Und wie sollte man mit den zahlreichen Opfern des Nationalsozialismus umgehen, wie sie für ihr erfahrenes Leid entschädigen?
„Entnazifizierung“ hieß die Lösung für das erste der genannten Probleme. Im „Potsdamer Abkommen“ von 1945 beschlossen die Alliierten eine Reihe von Maßnahmen: Die NSDAP und alle ihre Unterorganisationen wurden verboten, NS-Gesetze aufgehoben, Hauptkriegsverbrechern wurde der Prozess gemacht und nationalsozialistische Embleme und Symbole aus dem alltäglichen Leben entfernt. Außerdem mussten sich insgesamt ca. 2,5 Millionen Deutsche einem Entnazifizierungsverfahren unterziehen, das eine mögliche Verstrickung in NS-Verbrechen offenlegen sollte. Im späteren Nordrhein-Westfalen, 1945 noch britische Besatzungszone, wurden Entnazifizierungsausschüsse gebildet, die mithilfe von Fragebögen die Betroffenen überprüften. Die Militärregierung führte 1946 fünf Kategorien ein, anhand derer die zu überprüfenden Personen eingeteilt und gegebenenfalls bestraft werden konnten: Kategorie 1 bildeten die „Hauptschuldigen/Kriegsverbrecher“ und Kategorie 5 die „Entlasteten“. 1947 legte die Militärregierung die Entnazifizierungsverfahren in die Hand der NRW Landesregierung. Dass die große Mehrheit der Überprüften als Mitläufer (Kategorie 4) oder Entlasteter (Kategorie 5) eingestuft wurde, hat während der Verfahren und auch im Nachhinein viel Kritik hervorgerufen, zumal nur auf 90 (!) Personen die Kategorien 1 (Hauptschuldige) und 2 (Belastete) zutrafen. Zwar wären Verwaltung und Wirtschaft durch eine strikt durchgeführte Entnazifizierung kaum handlungsfähig gewesen. Doch konnten so viele in den Nationalsozialismus verstrickte Personen nach 1945 ihre Karrieren ungehindert fortsetzen.
Der schwierige Umgang mit einzelnen Personen, die vom Unrecht der Nationalsozialisten begünstigt worden waren, zeigt sich zum Beispiel an Fritz Szepan (1907-1974). In den 1930er Jahren war Szepan einer der bekanntesten deutschen Fußballer, Kapitän der deutschen Nationalmannschaft, mit dem FC Schalke 04 mehrfacher Deutscher Meister und Miterfinder des legendären „Schalker Kreisels“. 2001 sollte eine der Straßen rund um die neue Arena (heute Veltins-Arena) nach ihm benannt werden. Dann stellte sich heraus, dass Szepan während des Nationalsozialismus im Zuge der „Arisierung“ (Beschlagnahmung jüdischen Besitzes zugunsten nichtjüdischer Deutscher) ein jüdisches Textilgeschäft günstig erworben, also direkt von einer nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahme profitiert hatte. Auf die Benennung der Straße nach ihm wurde verzichtet. Unverdiente Demontage eines sportlichen Vorbilds oder notwendige Distanzierung? Diese Frage trieb nicht nur die Gelsenkirchener Bevölkerung und Schalke-Fans um. Die Auseinandersetzung um Szepan führte dazu, dass der S04 seine Vereinsgeschichte während des Nationalsozialismus als erster Bundesligaverein wissenschaftlich erforschen ließ.
Eine weitere zentrale Herausforderung der neugeschaffenen Demokratie war die Frage nach dem Umgang mit den Menschen, die unter dem NS-Regime gelitten hatten, verfolgt und ermordet worden waren. Entschädigungszahlungen an NS-Opfer wurden bereits während der Zeit der Militärregierung geleistet. 1953 wurde mit der Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) der Versuch unternommen, NS-Opfern und ihren Angehörigen umfassende Entschädigung zu leisten Mithilfe dieses Gesetzes konnten zwar viele NS-Opfer Genugtuung erhalten, jedoch blieben auch viele Opfergruppen von der Wiedergutmachung ausgeschlossen. Zum Beispiel erhielten Personen, die in der NS-Zeit zwangssterilisiert worden waren, keine Entschädigungszahlungen, da ihr Schaden bis in die 1970er Jahre hinein nicht als Unrecht angesehen wurde. Bis in die Gegenwart bleiben ihnen Zahlungen nach dem BEG verwehrt. Ein anderes Beispiel für den problematischen Umgang mit bestimmten Opfergruppen sind die Auseinandersetzungen um die „Edelweißpiraten“ sowie die „Ehrenfelder Gruppe“ um Hans Steinbrück. Die „Edelweißpiraten“ waren eine 1938/1939 gebildete Gruppe unangepasster Jugendlicher, die sich bewusst von den nationalsozialistischen Jugendgruppen abgrenzten. Sie rebellierten vor allem gegen Einschränkungen und Verbote durch die Nationalsozialisten und wurden deswegen verfolgt. Ihr Erkennungszeichen war das Edelweiß, das Zentrum ihrer Aktivitäten die Stadt Köln und das Umland. Einige Edelweißpiraten aus Köln-Ehrenfeld schlossen sich später der „Ehrenfelder Gruppe“ an. Es handelte sich dabei um eine Widerstandsgruppe, die NS-Verfolgte und Deserteure versteckte und mit Lebensmitteln versorgte. In der Nachkriegszeit entbrannte ein langer Streit darüber, ob die Mitglieder der „Ehrenfelder Gruppe“ Widerstandskämpfer waren. Der 17-jährige Bartholomäus Schink war 1944 mit einigen seiner Mitstreiter ohne Gerichtsurteil von der Gestapo gehängt worden. Als seine Mutter 1954 einen Antrag auf Entschädigung nach dem BEG stellte, wurde dieser 1962 von der Bezirksregierung Köln abgelehnt. Schink sei kein NS-Opfer gewesen, sondern Angehöriger einer Gruppe von Verbrechern – so der Tenor der Begründung. Seit den 1970er Jahren nahm der gesellschaftliche Druck auf den Kölner Regierungspräsidenten jedoch zu, da sich zunehmend Aktionsbündnisse und Journalisten für die Rehabilitierung der „Ehrenfelder Gruppe“ einsetzten. Doch eine 1980 durch den damaligen Regierungspräsidenten Antwerpes angeordnete Überprüfung der Gerichtsurteile brachte kein neues Ergebnis. Weiterhin wurde die „Ehrenfelder Gruppe“ als kriminelle Vereinigung und „Terrorgruppe“ angesehen. Dies geschah teilweise immer noch auf der Grundlage von Ermittlungsergebnissen und Einschätzungen der Gestapo. Erst im Jahr 2003 erfolgte die Rehabilitierung und Anerkennung als Widerstandskämpfer durch den amtierenden Regierungspräsidenten Roters.
Die erfolgreiche Umwandlung einer Diktatur in eine Demokratie hat nicht dazu geführt, dass rechtsextremistisches Gedankengut aus allen Köpfen verschwunden ist. Fremdenfeindliche, rassistische Reflexe kennzeichnen die Geschichte der Bundesrepublik und des Bundeslandes NRW. Daneben gab es jedoch auch immer Aktionen gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, die teilweise durch Zuschüsse des Landes NRW oder des Bundes finanziert wurden. Doch alle diese Maßnahmen konnten eine Eskalation fremdenfeindlicher Gewalt im Jahr 1993 nicht verhindern. In den frühen 1990er Jahren hatte die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“ und nicht zuletzt der Bürgerkrieg in Jugoslawien zu einem Anwachsen der Flüchtlingszahlen geführt. Viele suchten in Deutschland Asyl. Die Lage war also mit der aktuellen Flüchtlingssituation vergleichbar. Diskussionen um das Asylrecht wurden schnell polemisch geführt, woran Politiker und Medien einen nicht unwesentlichen Anteil hatten. Rechtsextreme Parteien wie die „Republikaner“ oder die DVU schafften zwischen 1989 und 1992 bei einigen Landtagswahlen den Einzug in das Parlament. Am 26. Mai 1993 verschärfte der Bundestag das in Artikel 16 des Grundgesetzes verankerte Recht auf Asyl. In diesem aufgeheizten Klima kam es zu einem Anstieg rassistischer und fremdenfeindlicher Übergriffe und Anschläge. 1991 und 1992 ereigneten sich in Hoyerswerda und in Rostock-Lichtenhagen rassistische Ausschreitungen gegen Asylbewerber und Asylunterkünfte. Drei Tage nach der Verschärfung des Asylrechts verübten Rechtsextreme einen Brandanschlag auf ein Wohnhaus in Solingen, in dem eine Familie türkischer Herkunft wohnte. Fünf Personen kamen ums Leben, weitere erlitten teilweise schwere Verletzungen. Fremdenfeindlichkeit ist auch heute ein Thema, das von allen Bürgerinnen und Bürgern aufmerksam beobachtet werden sollte, damit sich ein Anschlag wie in Solingen nicht wiederholen kann.
NRW und seine Städte
Neben der Landeshauptstadt Düsseldorf befand sich in Nordrhein-Westfalen von 1949 bis 1990 auch die westdeutsche Bundeshauptstadt Bonn. Das einstige Parlaments- und Regierungsviertel dort gilt als Symbol für die Wiege der bundesrepublikanischen Demokratie. Auch nach dem Umzug von Parlament und Teilen der Bundesregierung im Jahr 1999 blieben sechs Bundesministerien weiterhin am Rhein.
Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands – mit weit mehr Einwohnern als die Schweiz und Österreich zusammen. Die über 17,5 Millionen Einwohner*innen leben in fast 400 Gemeinden, davon sind gut die Hälfte Städte und darunter wiederum 30 Großstädte. Zugleich ist Nordrhein-Westfalen mit einer Bevölkerungsdichte von 517 Einwohnern pro Quadratkilometer unter den Flächenländern das mit Abstand am dichtesten besiedelte Bundesland. Die Bevölkerung ist dabei ungleich verteilt: Auf Grund der industriellen Vergangenheit befinden sich die meisten Großstädte im Ruhrgebiet und im Rheinland. Über die meisten Einwohner*innen verfügt Köln, die einzige Millionenstadt des Landes. Das Ruhrgebiet wiederum als Ballungsraum im Zentrum des Landes zählt mit seinen rund zehn Millionen Bewohner*innen zu den größten Metropolregionen weltweit. Die kleinste Stadt Nordrhein-Westfalens ist das rheinische Heimbach im Kreis Düren mit etwas über 4.300 Einwohnern, und im westfälischen Hochsauerlandkreis liegt die nur unwesentlich größere Stadt Hallenberg. Den Prognosen zufolge wird sich die Bevölkerungsdichte in den Regionen weiter verändern. Dies liegt auch am Strukturwandel: Der Niedergang der traditionellen Industrien und Handwerke stellt die Kommunen vor gewaltige Herausforderungen: Erfolgreiche Ansiedlungen von modernen Wirtschaftszweigen führen zum Zuzug neuer Einwohner*innen. Gleichzeitig wird der Altersdurchschnitt der Bevölkerung in Nordrhein-Westfalen deutlich steigen.
Zahlreiche Kommunen im heutigen Nordrhein-Westfalen verfügen über eine stolze Vergangenheit. Neben römischen Gründungen wie Bonn, Neuss, Köln oder Xanten haben viele ihre städtischen Wurzeln und erste Blütezeit im Mittelalter, als Beispiele seien das auch schon den Römern bekannte Aachen, die ehemalige freie Reichs- und Hansestadt Dortmund oder die Bischofsstadt Münster genannt. Und einige sind ehemalige Residenzstädte wie Bonn, Düsseldorf, Paderborn oder Detmold. Andere wurden zur Geburtsstunde NRWs gleichsam neugegründet, wie das im Regierungsbezirk Minden-Lübbecke liegende Espelkamp, das nach dem Krieg zunächst als Lager für Flüchtlinge diente, und später als moderne Plansiedlung für Vertriebene und Migranten zur Stadt heranwuchs. Durch Eingemeindungen waren in den 1920er Jahren bereits größere Städte entstanden – und andere untergegangen. So verleibte sich Dortmund 1928 das einst stolze, im Mittelalter gegründete Hörde ein, ebenso wie Düsseldorf, das 1929 unter anderem die frühere Reichsstadt Kaiserswerth integrierte. Und die Millionenstadt Köln verdankt ihre heutigen Ausmaße mehreren Eingemeindungswellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, die insgesamt zu einem Flächenzuwachs von knapp 40.000 ha führten. Zwischen 1966 und 1975 wurde in Nordrhein-Westfalen in zwei Phasen die kommunale Gebietsreform durchgeführt. Die Neugliederung hatte die Stärkung der Verwaltung der Städte und Gemeinden zum Ziel, indem größere Einheiten geschaffen wurden. Das Ergebnis war eine erhebliche Reduzierung der Zahl der Gemeinden und Kreise: Die 2.327 kreisangehörigen Gemeinden wurden auf 373 reduziert, die Zahl der Kreise von 57 auf 31 fast halbiert und von den 38 kreisfreien Städten blieben nur noch 23 übrig. Gegen die kommunale Neugliederung regte sich vielerorts starker Widerstand in den betroffenen Kreisen und Gemeinden. So wurde beispielsweise von der „Aktion Bürgerwille“ in Wattenscheid gegen die Eingemeindungspläne nach Bochum ein Volksbegehren angestrengt, das jedoch scheiterte. Auch Städte wie Meerbusch, das erst 1970 als Zusammenschluss mehrerer Gemeinden gegründet worden war, mussten im Zuge der kommunalen Neugliederung um ihre Existenz kämpfen.
Vor eine besondere Herausforderung stellten die Städte die starken Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Der Wiederaufbau war in den Kommunen von unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen geprägt. Entschied man sich in einer Stadt zum Wiederaufbau verlorener historischer Gebäude – so wie beispielsweise Münster in Westfalen die Fassaden des Prinzipalmarkts im historisierenden Stil wiederaufbaute – wollte man andernorts ein modernes Stadtbild ohne Rücksicht auf Gewesenes herstellen: Dortmund entschied sich zum Beispiel dagegen, das älteste steinerne Rathaus Deutschlands wieder zu errichten. Lichte, Transparenz und Funktionalität ausstrahlende Gebäude waren das erstrebte Ziel vieler Städte, was sich bis heute in vielen Ikonen der 50-Jahre-Architektur, wie zum Beispiel im 1953/54 errichteten Gebäude des Bundesministeriums für das Post- und Fernmeldewesen in Bonn (heute Sitz des Bundesrechnungshofes) in Nordrhein-Westfalen widerspiegelt. Die urbanen Infrastrukturen wurden neu geschaffen, vielerorts war das Ziel die autogerechte Stadt. Das Ringen um das neue Gesicht der Städte blieb nicht ohne Konflikte, wofür der Düsseldorfer Architektenstreit als Beispiel dienen mag: Dabei nahmen städtebauliche Theorien, die in der NS-Zeit geprägt worden waren, Einfluss auf den urbanen Wiederaufbau; das führte zu heftigen Kontroversen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden zahlreiche architektonische Kurskorrekturen vorgenommen. Und über die autogerechte Stadt denken Kommunen in Zeiten des drohenden Verkehrsinfarkts längst anders: Sie setzen verstärkt auf den öffentlichen Nahverkehr und das Fahrrad. Das westfälische Münster gilt sogar als „Fahrradhauptstadt Deutschlands“. Die Vielfalt der Städte Nordrhein-Westfalens äußert sich besonders im großen Angebot von Kunst und Kultur. Unzählige Museen, Archive und Bibliotheken bewahren und zeigen die kulturellen Schätze der Städte. Theater und Opernhäuser sind vielerorts ebenso wie Festivals mit Musik-, Film- oder Literaturkultur von Rang zu finden. Und die Bauten von Stararchitekten wie Liebeskind oder Gehry finden internationale Beachtung.
Alle verwendeten Bilder stammen aus dem Landesarchiv NRW