Das Bauhaus und Indien

Elizabeth Otto

Von Google Arts & Culture

by Elizabeth Otto

Nur wenige wissen, dass die erste Ausstellung des Bauhauses im Ausland weder in den Nachbarländern Deutschlands noch irgendwo sonst in Europa stattfand – also dem Kontinent, von dem ein Großteil der Lehrer, Schüler, Mitarbeiter und Unterstützer des Bauhauses stammte. Stattdessen wurde diese Ausstellung im Dezember 1922 im indischen Kalkutta – heute Kolkata – eröffnet, und zwar im Rahmen der 14. Jahresausstellung der Indischen Gesellschaft für Orientalische Kunst (Indian Society of Oriental Art). Laut dem von den Bauhaus-Meistern Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Paul Klee und Lyonel Feininger und den Schülerinnen Margit Téry-Adler und Sophie Korner verfassten Katalog wurden dort 250 Bauhaus-Werke gezeigt: Aquarelle, Bleistiftskizzen, Radierungen und Holzschnitte. 

Sketch 160A, Wassily Kandinsky, 1912, Aus der Sammlung von: The Museum of Fine Arts, Houston
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Auch wenn es schwierig ist, die Ausstellung genau zu rekonstruieren, vermitteln Beispiele der Werke dieser Künstler einen Eindruck von ihrem Inhalt. Die meisten Arbeiten waren erst kurz vor der Ausstellung entstanden und wurden direkt von der Schule dorthin geschickt. Lyonel Feininger – Schöpfer des kuboexpressionistischen Holzschnitts, der als Titelblatt für Walter Gropius' "Programm des Staatlichen Bauhauses in Weimar" von 1919 diente – nahm jedoch auch Werke auf, die bereits 1911 entstanden waren. Neben den Kunstwerken wurden auch verschiedene Ausgaben des Journals Utopia: Dokumente der Wirklichkeit verschickt. Es wurde gemeinsam von Johannes Itten, Margit Téry-Adler und einer weiteren Bauhaus-Schülerin, Friedl Dicker, produziert und von Téry-Adlers Mann, dem in Weimar ansässigen Kunsthistoriker Bruno Adler, herausgegeben. Sicherlich ist es bemerkenswert, dass die erste Ausstellung der Schule im Ausland so weit entfernt stattfand. Ebenso überraschend ist jedoch die Tatsache, dass nur ein einziges Werk verkauft wurde, obwohl es sich um eine Verkaufsausstellung handelte. Außerdem war es kein Werk von Kandinsky, Klee oder einem der anderen etablierten modernen Künstler, sondern ein Aquarell einer der Schülerinnen, der Wienerin Sophie Korner. Gekauft hat es niemand anderer als der indische Dichter und Nobelpreisträger Rabindranath Tagore. Die übrigen Bauhaus-Werke wurden am Ende der Ausstellung nach Deutschland zurückgeschickt.

1925, Aus der Sammlung von: LIFE Photo Collection
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Rabindranath Tagore      

Dass die indische Bauhaus-Ausstellung stattfand, war ausschließlich einer anderen jungen Österreicherin zu verdanken: der Kunsthistorikerin Dr. Stella Kramrisch, die Itten in Wien kennengelernt hatte. Sie schrieb ihm im Mai 1922 einen Brief, ob es möglich sei, die Ausstellung zu organisieren. Kramrisch, eine Expertin für antike indische Kunst und Architektur, lebte in Indien und unterrichtete an der progressiven Kunstschule Kala Bhavana außerhalb von Kalkutta. Diese Stelle war ihr ein Jahr zuvor von Rabindranath Tagore bei einem Treffen in London angeboten worden. 

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Kala Bhavana (Institute of Fine Arts), Shantiniketan, Bengal

Founded by Rabindranath Tagore in 1919

Kala Bhavana was part of the Visva-Bharati College in Shantiniketan, which Tagore had founded in 1919 with the funds from his Nobel Prize, concurrent with his renouncing of his British knighthood in protest over the massacre of unarmed civilians in Amritsar. Not only were both the Bauhaus and Kala Bhavana founded in 1919, both were also educational experiments based in progressive ideals and a drive for cultural renewal, and were situated outside of cosmopolitan centers, the Bauhaus in the Thuringian town of Weimar, Kala Bhavana in the countryside of West Bengal. But Kala Bhavana was also distinct in that its rejection of European cultural traditions was part of an anti-colonialist move for Indian independence.

Self Portrait, Abanindranath Tagore, Aus der Sammlung von: Victoria Memorial Hall, Kolkata
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Kala Bhavana gehörte zum Visva-Bharati-College (heute Universität) in Shantiniketan, das Tagore 1919 mit Geldern seines Nobelpreises gegründet hatte. Aus Protest gegen das Massaker an unbewaffneten Zivilisten in Amritsar hatte Tagore damals auf die britische Ritterwürde verzichtet. Sowohl das Bauhaus als auch Kala Bhavana wurden 1919 gegründet – und beide waren pädagogische Experimente, die auf fortschrittlichen Idealen und dem Streben nach kultureller Erneuerung beruhten. Außerdem befanden sich beide abseits der kosmopolitischen Zentren: das Bauhaus im thüringischen Weimar, Kala Bhavana in einer ländlichen Gegend Westbengalens. Kala Bhavana zeichnete sich jedoch auch durch die Ablehnung europäischer Kulturtraditionen aus und unterstützte das antikolonialistische Streben nach der Unabhängigkeit Indiens. 

Vor diesem angespannten kulturellen Hintergrund bot Kramrischs Kuratierung der 14. Jahresausstellung eine Plattform für einen besonders fruchtbaren kulturellen Austausch durch moderne Kunst. Zusätzlich zu den Bauhaus-Arbeiten wurden in der Ausstellung Werke progressiver Künstler gezeigt, die mit Rabindranath Tagore und Kala Bhavana in Verbindung standen. Hierzu zählten der Leiter der Schule, Rabindranath Tagores Neffe Abanindranath Tagore, sein Schüler, Nandalal Bose, der dort auch lehrte, Abanindranaths Bruder, der Künstler und Karikaturist Gaganendranath Tagore, sowie ihre Schwester, die autodidaktische Malerin Sunayani Devi. Äußerlich schienen die beiden Werkgruppen der Ausstellung – Bauhaus und bengalische Kunst – nur wenig miteinander zu tun zu haben. Dennoch beschrieb Kramrisch in ihrem Katalogbeitrag eine wichtige konzeptionelle Verbindung zwischen ihnen. Sie forderte die indische Öffentlichkeit auf, sich eingehend mit dieser Ausstellung zu beschäftigen – vor allem wegen ihres Antinaturalismus. Dann würde deutlich, "dass die Transformation der Formen der Natur in der Arbeit eines Künstlers dem alten und modernen Indien und Europa als unbewusster und daher unvermeidlicher Ausdruck des Lebens der Seele und der künstlerischen Genialität gemein ist".

Abul Hassan, Abanindranath Tagore, Aus der Sammlung von: Lahore Museum
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In ihrer Rezension über die Ausstellung verdeutlichte sie diesen Punkt noch: "Welches Land und welche künstlerische Mentalität diese Künstler auch vertreten mögen, eines ist ihnen gemeinsam: ihre Ausbildung. Sie alle besuchten weltweit bekannte Kunstakademien. Dennoch war jeder einzelne von der inneren Notwendigkeit getrieben, aus alten Formen auszubrechen. Und jeder kämpfte auf seine eigene Art und Weise darum, dieses Ziel zu erreichen – durch Dekoration und Symbolismus, durch Impressionismus und Postimpressionismus und all die verschiedenen künstlerischen Strömungen, die die Oberfläche der europäischen Kunst in den letzten zwanzig Jahren bewegt haben". Dass auf deutscher Seite großes Interesse an den modernen Experimenten indischer Künstler bestand, sieht man daran, dass im Folgejahr, also 1923, im Gegenzug eine Ausstellung bengalischer Künstler in Berlin stattfand.

Kalkutta ist zwar weit von Weimar entfernt, doch in gewisser Weise ist es passend, dass die erste Ausstellung des Bauhauses im Ausland dort stattfand – war das Bauhaus in seinen spirituellen und künstlerischen Experimenten doch von Anfang an von der Idee Indiens inspiriert. Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen in Deutschland erstmals Veröffentlichungen zur indischen Kunst und Kultur, die auf großes Interesse stießen. Bereits 1913 feierten Schüler der Vorgängerschule des Bauhauses in Weimar ein "Indisches Fest" mit exotischen Kostümen und einer realistisch wirkenden, lebensgroßen Elefantenskulptur. Solche Darstellungen des Selbst als das Fremde stärkten als Geste der Selbstprimitivisierung einerseits das europäische Kolonialprojekt, an dem Deutschland 1913 noch aktiv beteiligt war – vor dem Ersten Weltkrieg, der zum Verlust der deutschen Kolonien führen sollte. Im Kontext einer Kunstschule stellte die Aufmachung als Inder(in) – oder als kulturell Andere(r) – allerdings auch eine Möglichkeit dar, um die Ablehnung der europäischen Vergangenheit erkennen zu lassen.

Gespenst eines Genies, Paul Klee, 1922, Aus der Sammlung von: National Galleries Scotland: Modern
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Nach der Gründung des Bauhauses ließen sich viele seiner Meister von der indischen Kunst und indischen Ideen inspirieren. Klees Arbeiten zeigten beispielsweise ein profundes Wissen über indische Kunst, Literatur und religiöse Kosmologien. Dies galt auch für das Werk Ittens, den sein damaliger Bauhaus-Kollege Oskar Schlemmer als zutiefst vom "Kult Indiens" beeinflusst beschrieb. Als Itten 1919 zusammen mit 16 seiner Schüler aus Wien zum Bauhaus kam, praktizierten sie alle die hybride Religion Mazdaznan, die sich auf eine Reihe östlicher Philosophien wie den Hinduismus und den Zoroastrismus stützte. Viele weitere Bauhaus-Schüler traten in den Mazdaznan ein, und in der Kantine wurden nur streng vegetarische Gerichte angeboten. Für Ittens Arbeit und Unterricht blieben indische Ideen so wichtig, dass ihm sein Freund Hans Finsler noch Jahrzehnte später ein besonderes Denkmal für seine Fähigkeit setzte, mehrere Tätigkeiten gleichzeitig zu verrichten: In den 1940er Jahren fertigte er eine Montage mit einem Foto von Ittens Kopf auf dem vielarmigen hinduistischen Gott Shiva an.

Das frühe Bauhaus hatte auch indische Redner zu Gast, darunter im Herbst 1921 den Musiker, Dichter und Gründer des Internationalen Sufismus, Inayat Kahn, der vom gesamten Bauhaus-Meisterrat eingeladen wurde. Kahns musikalische Darbietung und sein Vortrag über die Natur der Kunst ("The Nature of Art") und die zentrale Bedeutung des Erlebens von Kunstgenuss für die Sufi-Philosophie hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Schüler, die sich sehr für nicht-westliche Spiritualität und Metaphysik interessierten. Rabindranath Tagore selbst besuchte im selben Jahr das Bauhaus, was sicherlich dazu beitrug, den Weg für die Ausstellung im Jahr 1922 in Kalkutta zu ebnen.

Gandhi Ghat, Habib Rahman, Late Forties, Originalquelle: Ram Rahman
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Bekanntermaßen wendete sich das Bauhaus unter dem neuen Motto "Kunst und Technik – eine neue Einheit" 1922 von seiner frühen expressionistischen und gefühlvollen Haltung gegenüber Konstruktivismus und Industrialisierung ab. Das Interesse der Bauhaus-Mitglieder an spirituellen Experimenten sowie an indischen und anderen nicht-westlichen Gedankenströmungen waren mit der Zeit in ihrer Kunst zwar nicht mehr so deutlich, ließ sich in ihrer Arbeit und Lehre jedoch weiterhin erkennen. Joost Schmidt, an den man sich oft wegen seines besonders sachlichen Ansatzes bei der grafischen Gestaltung erinnerte, studierte ab 1919 am Bauhaus und lehrte dort von 1925 bis 1932 als Juniormeister Bildhauerei, Typografie und Werbung. Obwohl Schmidt den Ruf hatte, sehr trocken zu sein, behandelte er in seinen Kursen immer auch die Philosophie des Yoga in Bezug auf Gesundheit und Kreativität. Seine Vorlesungsunterlagen enthielten detaillierte Zeichnungen der Chakren, die sorgfältig sowohl auf Sanskrit als auch auf Deutsch beschriftet waren. 
Viele Jahre später, als Indien im Jahr 1947 die Unabhängigkeit erlangte, gewann die Idee des Bauhauses – zusammen mit verwandten modernistischen Bewegungen – in Indien wieder an Bedeutung. Dieses Mal gelangte das Bauhaus jedoch nicht durch Malerei und bildende Künste nach Indien, sondern als Architekturbewegung. Diese manifestierte den Bruch des Landes mit der britischen Kolonialvergangenheit und lieferte ein neues visuelles Vokabular für die Selbstdefinition, Staatenbildung und Transformation zu einer modernen Nation. Das Bauhaus gab dem indischen Volk das, was Ministerpräsident Jawaharlal Nehru als "Gewand der Moderne" bezeichnete. Der beim Bauhaus im Vordergrund stehende Funktionalismus passte zu Indien als neu gegründetem Land mit seinen vielen praktischen Bedürfnissen. Hierzu gehörte auch die drängende Aufgabe, den Lebensstandard für Indiens große und vielfältige Bevölkerung anzuheben. Anknüpfungspunkte für modernes Design und Experimente boten in diesem visuellen Vokabular des Neuen die Gründung der Designzeitschriften Marg (1946) und Design (1957), Großprojekte wie Le Corbusiers Bau der neuen Stadt Chandigarh in den 1950er Jahren sowie die Gründung von Schulen wie dem National Institute of Design und dem Industrial Design Center in den 1960er Jahren.

India International Center, New Delhi, Joseph Allan Stein, 1958
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Much later, once India achieved independence in 1947, the idea of “Bauhaus” would once again become important in the country as an architectural movement. It manifested India’s break with the British colonial past and provided what Prime Minister Jawaharlal Nehru called “the garb of modernity.” The Bauhaus’s emphasis on functionalism suited India as a newly-founded country with many practical needs, including the urgent task of raising living standards for its large and diverse population. The establishment of design journals Marg (1946) and Design (1957); large-scale projects like Le Corbusier’s building of the new city of Chandigarh in the 1950s; and the founding of schools including the National Institute of Design and the Industrial Design Center in the 1960s provided nodes for modern design and experimentation in this visual vocabulary of the new.

The Oberoi Hotel (formerly known as the Intercontinental Hotel), New Delhi, Durga Bajpai and Piloo Mody, 1958
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Ein frühes Beispiel für diesen Einfluss des Bauhauses sind die reduzierten und teilweise freitragenden Formen von Habib Rahmans Gandhi-Ghat-Denkmal aus dem Jahr 1949 in Barakpur bei Kalkutta. Rahman hatte in den frühen 1940er Jahren am MIT studiert. Vermutlich lernte er damals Gropius kennen, der inzwischen Professor an der Harvard University war. Rahman schloss sein Studium 1944 ab und arbeitete für Gropius und andere Architekten der Moderne. Kurz vor der Unabhängigkeit kehrte er nach Indien zurück, wo er bedeutende öffentliche Gebäude und Großprojekte fertigstellen sollte – darunter auch sein vielleicht skurrilstes: den Delhi Zoo. Während der späten 1950er Jahre arbeiteten mehrere indische und internationale Architekten gleichzeitig in dem vom Bauhaus beeinflussten Internationalen Stil daran, Indiens Hauptstadt Neu-Delhi auszubauen und zu modernisieren. Zu ihren Projekten gehörten das heute als Oberoi Hotel bekannte Intercontinental Hotel von Durga Bajpai und Piloo Mody sowie das India International Center von Joseph Allen Stein.

Delhi Zoo

Delhi Zoo

Delhi Zoo

Perhaps Habib Rahman's most whimsical project...

Delhi Zoo

...an early example of Bauhaus influence on Indian architecture.

Die jahrhundertelange Beziehung des Bauhauses zu Indien zeigt, wie wichtig globale Einflüsse für die Bewegung waren. Da viele Ideen aus anderen Ländern jenseits der Grenzen Europas übernommen wurden, konnten die Bauhäusler ihre Designschule ständig reformieren. Die Ästhetik des Bauhauses wiederum lieferte bereits 1922 ein bildhaftes und später architektonisches Vokabular, das Künstler und Architekten an weit entfernten Orten inspirierte. Durch die in der Ausstellung in Kalkutta präsentierten Bauhaus-Künstler wurde eine europäische Kunstschule in den Vordergrund gerückt, die die Vormachtstellung der ästhetischen Traditionen Europas ablehnte. Dies inspirierte eine Generation von Künstlern, die dasselbe anstrebten. Ein Vierteljahrhundert später etablierte sich in Indien eine weitere Idee des Bauhauses als Kurzbegriff für Architektur im Internationalen Stil. So nahm die utopische Möglichkeit eines neuen, freien Indiens architektonische Gestalt an.

Quelle: Alle Medien
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