Techno-Kapitalismus: Die Globalisierung der elektronischen Musik

Die erfolgreichste Geschichte in der GROOVE handelt nicht von Musik, sondern von deren Vermarktung. 2015 haben wir analysiert, wir aus dem einstigen Underground-Phänomen ein Milliarden-Geschäft wurde.

Club Zouk in Singapur von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

House und Techno sind global geworden. Kleinere Clubs und Festivals können sich die großen DJ-Namen nicht mehr leisten. Traditionsreiche Veranstaltungen konkurrieren mit neuen Festivals in Brasilien oder Korea. Ibiza funktioniert als Marktplatz, der mittlerweile auch den Wert von Underground-DJs bestimmt.

Tomorrowland Festival im Jahr 2018 von Diana y KarolGROOVE Magazin Berlin

Die Szene arbeitet heute so professionell wie das große Popgeschäft. Einstige Ideale treten in den Hintergrund. Und nicht wenige Aktivisten der Neunziger und Nullerjahre sagen: Das ist nicht, warum wir damals angefangen haben, Partys zu organisieren.

Solomun von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Seit einigen Jahren steigen viele DJ-Gagen in einem bisher unbekannten Tempo: Für eine Silvesterparty in einem italienischen Club bekommt Richie Hawtin als Headliner 100.000 Euro, trotz Wirtschaftskrise. Ein Promoter bucht Solomun für 1.500 Euro, acht Monate später muss er die fünffache Summe hinblättern.

Kappa FuturFestival 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Nachwuchs-DJs treten mit der Ansage an, nicht unter 3.000 Euro zu spielen. Nicht selten ist Maximalgage des vergangenen Jahres im nächsten Jahr das Minimum. Jamie Jones ist in Großbritannien und auf Ibiza ein Star und kann dort 40.000 bis 50.000 Euro für ein zweistündiges DJ-Set erhalten. Diese Preise werden international zur Messlatte, auch wenn er sich woanders noch gar nicht etabliert hat.

Awakenings Festival von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Mit den Gagen wachsen auch die Ansprüche: Ein Club soll für einen mittelbekannten DJ vier weitere Flüge für dessen Team bezahlen. Ein Festival soll zehn Hotelzimmer und einen Privatjet für die Entourage eines DJs buchen. Ein DJ wollte eine Zeit lang auf jeder Party lang fünfzig Gästelistenplätze und einen Reisebus für seine schwarzgekleideten Technogothics. Ein anderer lässt sich in seinem Vertrag ein Hotelzimmer mit einer bestimmten Quadratmeterzahl garantieren und eine bestimmte Espressosorte.

Kappa FuturFestival 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Es wäre absurd, den DJs als Symbolen von Genuss und Hedonismus protestantische Enthaltsamkeit abzuverlangen. Es ist nachvollziehbar, dass man auf den endlosen Reisen eine vertraute Person dabeihaben will. Ebenso, dass man auch die eigenen Leute mitbringen will, wenn man vor 10.000 Menschen auftritt. Auch, dass man nach dem Gig noch etwas essen und deshalb in einem Hotel mit 24-Stunden-Room-Service untergebracht werden möchte. Aber die richtige Espressosorte?

Elrow-Party im Amnesia auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Solche Wünsche sind bei Popstars wie Rihanna oder Justin Timberlake üblich. Auf einem solchen Niveau operiert etwa ein Marco Carola nicht. „Aber“, erklärt Steffen Charles, Macher der Time Warp, „diese DJs sind in der Position, sich ein Setup hinstellen zu lassen, das ihre Show optimal rüberbringt.“ Große Shows werden heute ausgerichtet wie Konzerte. DJs reisen mit einer Entourage aus Tour-Manager, Ton-, Licht- und Video-Leuten. Daheim handeln Booker und Manager Termine und Modalitäten mit den Veranstaltern aus.

Sven Väth und Richie Hawtin im Amnesia im Jahr 2016 von Frank WeyrautherGROOVE Magazin Berlin

Es gibt Agenturen, die sich allein um die Abwicklung der Reisen kümmern und besondere Deals mit Fluggesellschaften aushandeln. Es gibt spezialisierte Rechtsanwälte, Künstler-PRs und Social-Media-Experten, die sich um die Facebook-Seiten der Künstler kümmern. Bloß kein Posting mit Rechtschreibfehlern, heisst es. Zu Richie Hawtins Tour-Stab gehört ein Fotograf, der mitreist, nur um Fotos für die sozialen Netzwerke zu schießen.

Solomun im Pacha auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Das Booking ist zu einem langen, oft nervenaufreibenden Prozess geworden, bei dem gepokert und gefeilscht wird. Die Gage ist nur eines der Themen. Es geht um Gästelistenplätze, Hotelklasse, die Zahl der Flüge und die Technik. Und verstärkt auch um das sogenannte Billing: Wo steht der Name des DJs auf dem Festivalflyer? DJ X hat so und so viele Follower und so viele Boiler Room-Hits, warum soll er unter DJ Y stehen, heißt es dann. Es gibt selten Verträge mit weniger als sechs Seiten.

Boomfestival von RetinafunkGROOVE Magazin Berlin

Wenn der Name auf dem Flyer falsch geschrieben ist: 5000 Euro Vertragsstrafe. Der DJ kann aufgrund höherer Gewalt nicht zum Gig erscheinen: Die Gage wird trotzdem fällig. Ein namhafter Club kann solche Klauseln vielleicht aus dem Vertrag streichen. Idealistische Veranstalter könnten durch solche Geschäftspraktiken entmutigt werden.

Solomun im Pacha auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Fast alle werden von diesem strudelartigen Höher-Schneller-Weiter mitgerissen. Wer sich gerade Ableton installiert hat, buhlt schon um Soundcloud-Plays. Und, ja: Auch dafür gibt es eine Agentur. Sie generiert Klicks auf deiner Soundcloud-Seite. Newcomer wollen wie Stars behandelt werden. Stars gründen ihre eigenen Booking- und Event-Agenturen.

Der Tresor in Berlin von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Diese extreme Situation existiert, seit die Clubmusik stärker als je zuvor weltweit stattfindet. In den vergangenen zehn Jahren hat sie auch abseits von Trance und Mainstream-House eine unvorstellbare Erfolgsgeschichte hingelegt. Techno und House wurden in den USA erfunden. Doch dort blieb der Musik quasi bis vor drei Jahren der Erfolg versagt. In den Neunzigern fanden Techno und House hauptsächlich im deutschsprachigen Raum, in Großbritannien, den Benelux Ländern, Frankreich und Japan statt.

Der Warung Beach Club in Brasilien von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Mit dem Minimal-Sound und DJs wie Ricardo Villalobos fing Südeuropa Feuer. Danach ist Südamerika dazukommen, vor zwei Jahren auch die USA. Entwicklungen die früher Jahre dauerten, passieren nun in Monaten. Katrin Schlotfeldt von der Booking-Agentur Artist Alife, Bookerin von unter anderen Tale of Us, beschreibt die Situation wie folgt: „Frankreich ist zurzeit stark, UK öffnet sich immer mehr für Musik vom Kontinent. Südamerika ist schon seit einigen Jahren ein boomender Markt. Neuerdings touren die Künstler zweimal im Jahr durch die USA.“

Cocoon Closing Party im Amnesia auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Karney von Grade, Manager von Künstlern wie Seth Troxler, Jackmaster und Eats Everything ergänzt: „Orte wie Australien oder eben Brasilien waren immer drei bis vier Jahre zurück. Das ist jetzt anders. Diese Szenen entwickeln sich viel schneller. In Brasilien boomt die Wirtschaft. Die neue Mittelklasse will ausgehen und sich amüsieren. Früher waren in Südamerika Sasha oder Steve Lawler groß. Dann kam Cocoon und jetzt halt viele andere.“

Watergate-Party in Barcelona im Jahr 2016 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Das Internet und das Reisen haben die Clubmusik an Orte gebracht, die für Vinylvertriebe und Musikzeitschriften zu entlegen waren. Heute gibt es in Brasilien eine voll funktionierende Szene mit lokalen Stars. Die internationalen DJs begegnen dort einem Publikum, das mit der Musik seit Jahren vertraut ist. Clubmusik ist mittlerweile fast überall auf dem Planeten vorstellbar.

Seth Troxler im Warung Beach Club in Brasilien von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

„Nick Warren spielte gerade in Angola. Das letzte Mal, als ich von dem Land las, tobte dort Bürgerkrieg“, sagt Ed Karney. Und Seth Troxler ergänzt: „Freunde von mir machen Partys im Irak. In Ländern wie diesen ist die Leidenschaft und Liebe unserer Musik noch fast unbekannt, aber es ist doch wunderbar mit der Musik auch, einen Hoffnungsschimmer dort hin zu bringen.“

Fusion Festival im Jahr 2011 von RetinafunkGROOVE Magazin Berlin

Natürlich stellen die Bookings in den fernen Ländern die Agenturen vor Herausforderungen. Wer kümmert sich in dem Land um das Wohlergehen und die Sicherheit des DJs? Meistens arbeitet der Booker mit einem Sub-Agenten zusammen, der hilft, die Sprachbarriere zu überwinden und beurteilen kann, ob ein Veranstalter vertrauenswürdig ist. Mit wem man kooperiert und in welchen Ländern man spielt, ist auch eine politische Frage.

Solomun im Pacha auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

In vielen der aufstrebenden Staaten wie Brasilien, Russland, Indien, China oder Korea ist zum Beispiel Tabaksponsoring noch legal. Dort spielt die dazugehörige Industrie eine maßgebliche Rolle im Club- und Festival-Geschehen. Wie positioniert man sich als Künstler und Booker dazu? Manager Ed Karney meint: „Wir arbeiten nicht mit Zigarettenherstellern zusammen. Das ist eine moralische und ethische Frage. Wir arbeiten auch nicht in Dubai und anderen Ländern des Nahen Ostens. Deren Politik lehnen wir ab.“ Doch mit dieser Meinung gehört er in der Szene zu einer Minderheit.

Terrasse des Amnesia auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Einer der großen Katalysatoren in der elektronischen Musik der vergangenen zehn Jahre war Ibiza. Die jüngere Generation lernte House und Techno nicht mehr so oft in ihrem lokalen Club kennen, sondern auf dieser Insel. „Meine ganze Szene baut auf Beziehungen, die auf Ibiza entstanden sind“, sagt Karney. „Jamie Jones ist wie viele englische Touristen sieben Jahre lang Woche für Woche als Gast ins DC10 gegangen. Und er hat Eintritt gezahlt. Auf dieser Insel findet man einen übersättigten, hochgekochten Kapitalismus.“

Seth Troxler von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Seth Troxler sagt: „Auf Ibiza spielt man nicht mehr nur für die Leute aus einer Stadt. Die dreitausend Menschen im DC10 kommen wirklich aus der ganzen Welt, um die Sonne, die kollektive Kultur und das Clubbing zu genießen. Das spricht sich überall rum.“ Ibiza hat viel verändert: Clubbing hat nicht mehr nur mit dem Ort zu tun, an dem man lebt.

Fusion Festival im Jahr 2009 von RetinafunkGROOVE Magazin Berlin

Clubbing und Tourismus gehören zusammen. Und das Geld spielt eine größere Rolle. Ein Michael Mayer lehnt es ab, in einem Club zu spielen, in dem ein Wasser acht Euro kostet – zum Preis verminderter Sichtbarkeit. Vielleicht ist das ein Grund für das Karrierebewusstsein vieler junger DJs. Der Bohemien nimmt die Armut in Kauf, für einen Touristen ist sie keine Option.

Solomun im Pacha auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Es gibt inzwischen zahllose DJs. Aber nur mit etwa vierzig bis fünfzig Namen kann ein Veranstalter eine große Party stemmen. Das sind die so genannten Headliner. Dieser Umstand bestimmt die Szene. Für Booker sind Headliner und alle weiteren DJs zwei verschiedene Klassen von Künstlern. Veranstalter geben lieber mehr Geld für einen Großen aus, als weniger für mehrere Kleinere. Die erfolgreichsten Künstler repräsentieren das ganze Genre für die, die sich damit nicht so gut auskennen. So sehr es Szenemenschen ärgern mag: Für die Masse ist Techno gleichbedeutend mit Richie Hawtin. Diese Top 50 sind das greifbare Gesicht der Musik.

Kappa FuturFestival im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

DJs stehen im Ruf, Drogen verschlingende Hedonisten zu sein. Das hindert sie nicht daran, sich relativ rational und geschäftsmäßig für ihre größtmögliche Sichtbarkeit einzusetzen. Immer mehr DJs bauen sich ihre eigene Infrastruktur. Die anderen suchen sich die Booking-Agentur aus, die sie auf die gewünschten Events bringt. Im Bereich der Booker gab es in den vergangenen Jahren einen entscheidenden Wandel. Früher wurden die meisten Künstler von Agenturen aus der Clubszene vertreten. Neuerdings entdecken aber ungleich finanzkräftigere US-amerikanische Firmen House und Techno für sich.

Seth Troxler von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Ryan Crosson zum Beispiel wird von Creative Artists vertreten – genauso wie Kanye West oder Scarlett Johansson. Seth Troxlers Agentur heißt William Morris Endeavor Entertainment und vermittelt ebenso wissenschaftliche Vorträge und christliche Rockmusik. In der Szene haben diese Agenturen den Ruf, kleinere Konkurrenten zu verdrängen. Troxler erklärt, warum er sich von einem solchen Global Player vertreten lässt:

Seth Troxler von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

„William Morris hat vielen in unserer Szene zahlreiche Türen geöffnet. Ohne sie hätte ich niemals auf bestimmten großen Festivals aufgelegt. Dabei spiele ich auch immer noch für 600 oder 700 Euro im Robert Johnson. Und mein Booker bei William Morris, Steve Hogan, versteht auch, dass das so sein muss.

Sven Väth im Amnesia auf Ibiza im Jahr 2016 von Frank WeyrautherGROOVE Magazin Berlin

Die DJ-Karriere eines Headliners verläuft meist ähnlich. Sie beginnt mit einem Economy-Flug. Daraufhin fliegt der DJ Business, dann kommt ein zweiter Flug für den Tourbegleiter dazu, schließlich der Privat-Jet. Bis Sven Väth, Ricardo Villalobos oder Luciano ihren ersten Businessflug angetreten haben, dauerte es Jahre. Neue Acts können das heute innerhalb von zwei, manchmal sogar in einem Jahr erreichen.

Amelie Lens auf dem Awakenings Festival im Jahr 2018 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Dafür ist oft die Macht der Agentur entscheidend: Es ist üblich, mit dem Headliner noch ein paar kleinere Künstler mit zu verbuchen. Früher war der Traum eines jungen DJs eine Residency in einem lokalen Club. Heute gibt es ein anderes Traumpotenzial: Ein Soundcloud-Hit kann dich zu einer mächtigen Agentur bringen und die in Windeseile auf die weltweiten Festivalbühnen.

Fusion Festival im Jahr 2015 von MontecruzGROOVE Magazin Berlin

Für die Karriere von Newcomern hat sich ein Muster etabliert: Ein Label wird über Soundcloud oder eine ähnliche Seite auf einen Künstler aufmerksam. Wenn seine Veröffentlichungen dort erfolgreich sind, vermittelt ihn das Label an die Booking-Agentur, die mit dem Label bereits Events organisiert. In kürzester Zeit verdient der Musiker so bis zu 1500 Euro pro Auftritt. Da die großen Agenturen nicht alle Aufgaben übernehmen, kommt oft bald ein Manager und/oder Promoter dazu.

Solomun im Pacha auf Ibiza im Jahr 2017 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Ein Manager soll auch verhindern, dass der Künstler von der Agentur, die zum Teil mehrere hundert Musiker vertritt, vernachlässigt wird. Früher wurden ein paar Magazine und Radiosender mit Promos bemustert, heute müssen die Socialmedia-Kanäle und zahllose Blogs und Onlinemedien bedient werden.

Terrasse des Amnesia auf Ibiza von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

In ähnlich vorbestimmten Bahnen bewegen sich die DJs an der Spitze: Wenn ein DJ anfängt eigene Partys auf Ibiza zu machen, sehen sich viele andere über kurz oder lang dazu veranlasst mitzuziehen. Billing-Positionen, wer spielt auf welchem Festival auf welcher Bühne, die Größe des Privat-Jets – all das spielt für das DJ-Ego eine Rolle. Ein Top-DJ verdient extrem viel – die Spielzüge gibt dennoch oft das System vor.

Elrow Closing Party im Amnesia auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Heute kontrollieren die großen DJs (und ihre Booking-Agenturen) die Szene, weil ein großes Event nicht ohne sie funktionieren kann. Insofern liegt es nahe, dass sich die DJs unabhängig machen. Der DJ veranstaltet seine eigenen Partys. Er kontrolliert nicht mehr nur die eigene Musik, sondern das ganze Line-up, die Dekoration, Tänzer, Getränke und so weiter. Er emanzipiert sich von dem Gastronomen, zu dessen Inventar er historisch gehörte.

Kappa FuturFestival im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Gleichzeitig befördert er sich selbst vom Dienstleister zum Unternehmer. Er ist nicht mehr der bestbezahlte Angestellte, sondern der Boss von allem. Künstlerischer Emanzipationsakt und ökonomischer Schachzug überschneiden sich dabei. Das macht für DJs mehr Sinn als für andere Musiker: Sie sind per se Moderatoren, Kuratoren, Vermittler, Gastgeber. Sven Väth hat das vorgemacht, Chris Liebing, Loco Dice, Luciano oder Jamie Jones machen es nach.

Warteschlange am Eingang des Berghain von Ben KadenGROOVE Magazin Berlin

Die meisten großen DJs haben die dionysische Lust am Exzess mehr oder weniger ihren Karrieren untergeordnet. Gleichzeitig verlaufen die Karrieren stabiler und langlebiger. Sie sind die Gewinner der gegenwärtigen Situation, die Verlierer sind die kleinen Veranstalter – und letztlich die Fans, doch zu denen später.

Kappa FuturFestival im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Außerdem bestehen die großen Events meist auf lokale Exklusivität. Manche Künstler treten an solchen Orten schlichtweg nicht mehr auf. Manche DJs sind sich dieses Problems bewusst und versuchen gegenzusteuern.

Kappa FuturFestival im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Durch Social Media ist die Musik nicht mehr von Fotos, Videos und Eventankündigungen zu trennen. DJs ermüden mit „Off to X“-Postings. Selbst Berghain-Residents lassen sich in Jesus-Pose vor fünftausend Leuten fotografieren, die ihnen die Arme entgegen recken – eine Bildsprache, die früher eher Trance-DJs benutzten. „Ich komme aus der Zeit der gesichtslosen Künstler. Als ich in Detroit die Platten aus Deutschland hörte, hatte ich die absurdesten Phantasien, wer dahinter stecken könnte“, so Seth Troxler.

Berghain in Berlin von Michael MayerGROOVE Magazin Berlin

„Manche Detroit-Künstler wie Moodymann befinden sich immer noch hinter einem Vorhang. Aber auch das ist ein Bild, und das Bild ist gemacht und erdacht, wie Ostgut Ton als klassisches, starkes Techno-Image. Ich gehe in Sachen Social Media sehr aus mir heraus. Für mich ist das eine andere Seite meiner Kunst. Es geht darum, ein Bild zu erschaffen, das zeigt, wer man als Künstler ist und wie man wahrgenommen wird.“

Solomun im Pacha auf Ibiza von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

„Das ist wichtig, egal ob man Theo Parrish ist oder Steve Aoki. Künstler ohne klar definiertes Bild sind verloren – egal wie gut sie sind. Sie haben nichts, mit dem sich die Fans verbinden können. Über diese persönliche Verbindung definieren sie ihr Leben. Und das können auch maskierte Männer sein – ob nun Redshape oder Daft Punk.“

Tomorrowland Festival im Jahr 2019 von YuriguGROOVE Magazin Berlin

Booker und Promoter sind sich einig: Weil sich die großen Namen auf die großen Events konzentrieren und viel außerhalb von Europa unterwegs sind, hat hierzulande der Nachwuchs eine Chance. Sicher ist, dass die Fans ihre Lieblings-DJs in der Regel seltener zu Gesicht bekommen werden. Eines der größten Probleme innerhalb der Szene ist sicher, dass die Promoter jenseits der Qualitätsclubs und einiger weniger Festivals immer noch fast ausschließlich die großen Namen brauchen.

Fusion Festival im Jahr 2009 von RetinafunkGROOVE Magazin Berlin

Wem es gelingt, ein attraktives Paket aus Produktionen und Persönlichkeit zu schnüren, kann viel schneller als bisher eine Musikkarriere starten. Da kann man wie Eats Everything das putzige Bumpy-House-Bärchen geben oder wie das Label L.I.E.S. Brooklyner Hipstertum, Detroiter Klangesoterik und punkige Gegnerschaft verschmelzen. Die einen sehen darin ein multimediales Gesamtkunstwerk, die anderen ein schlüssiges Marketingkonzept.

Kappa FuturFestival im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Der Preis der globalen Aufmerksamkeit liegt darin, dass der Musiker weitgehend den Spielzügen des Systems folgen muss. Fest steht: Eine Stadt wie Plauen wird so schnell keinen Luciano mehr zu Gesicht bekommen. Aber dafür vielleicht einen jungen DJ, der sich seine Sporen noch verdienen muss oder einen Altgedienten, der sich in den Zentren nicht mehr halten konnte.

Fusion Festival im Jahr 2013 von RetinafunkGROOVE Magazin Berlin

Das bedeutet nicht, dass man schlechte oder schlechtere Musik hört, denn die Filter, die das Netz erzeugt, funktionieren. Etwas hat sich aber verändert: Früher hast du als Fan deinen DJ ausgesucht, heute sucht er eher dich aus. Damit der DJ seine Reiseroute durch deine Stadt legt, musst du etwas zu bieten haben. Entweder du gehörst zur zahlungskräftigen, aufstrebenden Mittelschicht eines Zweite-Welt-Landes, die sich die hohen Eintritte leisten kann.

Seth Troxler von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

Oder du hast das Glück Teil der Crowd eines Aushängeschilds wie Robert Jonson oder Output zu sein. Sonst bleibt allein die Möglichkeit, sich ins Festival-Proletariat einzuordnen. Verübeln kann man das seinem Headliner-Lieblings-DJ kaum: Alle, DJs wie Fans, sind heute mehr oder weniger Touristen. Seth Troxler bringt es folgendermaßen auf den Punkt:

Warteschlange bei der Ebow Closing Party vor dem Amnesia auf Ibiza im Jahr 2019 von Groove ArchivGROOVE Magazin Berlin

 „Für fast dasselbe Geld kann ich im Club in meinem Hinterhof feiern oder in einen Zug steigen, um meine Großmutter zu besuchen. Oder ich fliege nach Berlin und feiere von Freitag bis Sonntag durch. Das ist verrückt. Aber das ist das moderne Zeitalter. So ist Jugendkultur heute. Vor zehn Jahren konnte man sich das nicht vorstellen. Da war alles lokaler.“

Mitwirkende: Geschichte

Alexis Waltz

Quelle: Alle Medien
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