Das Deutsche Kaiserreich stellt ohne Zweifel eine wichtige Etappe in der deutschen Geschichte dar.
Es markiert eine Epoche tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und Konflikte und fällt zudem mitten in die Hochzeit des Imperialismus und der zunehmenden Verhärtung der Fronten zwischen den europäischen Großmächten.
Seinen Reichskanzlern kam durch die Leitung der Geschäfte des Bundesrates und ihre Regierungsverantwortung gegenüber dem Kaiser (Art. 15 und 17 der Reichsverfassung) eine entscheidende Rolle zu.
Sie übten neben dem Amt des Chefs der Reichsregierung fast durchgehend das Amt des preußischen Ministerpräsidenten aus.
Kaiser Wilhelm II. und Otto Fürst von Bismarck
Ihre jeweilige persönliche Amtsführung war für die Entwicklung des Kaiserreichs richtungweisend, oft im Mächtespiel mit Kaiser, Parlament und später auch der Obersten Heeresleitung (OHL).
Otto von Bismarck, der "eiserne" Reichsgründer (Reichskanzler: 21. März 1871 - 18. März 1890)
Der erste Reichskanzler des Deutschen Kaisereichs ist wohl auch der bekannteste. Seine Name Fürst Otto Eduard Leopold von Bismarck-Schönhausen wird heute vor allem mit der 1871 vollzogenen Reichsgründung, aber auch mit der Einführung der Sozialgesetzgebung, der gleichzeitigen Repression gegen Sozialdemokraten, dem Kulturkampf und dem Beginn des deutschen Imperialismus in Verbindung gebracht.
Außen- wie innenpolitisch duldete Bismarck nichts, was seine Herrschaft und die “göttliche Ordnung” innerhalb des Staates gefährden konnte. Seine Geringschätzung für Parteien und Reichstag sowie seine Unfähigkeit, sich dem späteren Kaiser Wilhelm II. unterzuordnen, führten schließlich zu seinem Rücktritt.
Gesetz zur Versicherung von Arbeitern, undatierter Entwurf (Quelle: BArch N 1024/33, fol. 1)
"“Ich schreibe meinen Namen unter kein Gesetz, welches eine Belastung des Arbeiters enthält.”"
Otto Fürst von Bismarck
Leo von Caprivi, Kanzler der Entspannung (Reichskanzler: 20. März 1890 - 28. Oktober 1894)
Als Nachfolger Bismarcks wurde Georg Leo von Caprivi de Caprera de Montecuccoli zum Reichskanzler ernannt. Die Wahl des Kaisers kam überraschend, war er doch bereits einmal mit Caprivi wegen des Ausbaus der Flotte aneinander geraten. Der ehemalige Chef der kaiserlichen Admiralität stellte nun auch als Reichskanzler die Weichen klar auf Entspannung: Innenpolitisch, indem er die Sozialistengesetze nicht erneuerte und die katholische Kirche für die während des Kulturkampfs eingefrorenen Finanzleistungen entschädigte, außenpolitisch durch die Beendigung des Handelskriegs mit Russland und die Zurückstellung imperialer Bestrebungen zu Gunsten eines besseren Verhältnisses zu den Kolonialmächten und einer effektiven Wirtschaftspolitik.
Caprivis Politik traf auf viele Widerstände. Nachdem auch der Kaiser mit einem Affront gegen die Sozialdemokraten erneut deutlich gemacht hatte, dass er sich nicht an Caprivis Kurs halten wolle, reichte dieser, bereits zum zweiten Mal, 1894 seinen Rücktritt ein.
Caprivis erstes Rücktrittsgesuch, 16. Juni 1891 (Quelle: BArch N 1091/7)
Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Kanzler auf Abruf (Reichskanzler: 29. Oktober 1894 - 15. Oktober 1900)
“Onkel Chlodwig” oder “Oheim”, wie der Kaiser den bei seinem Amtsantritt 75jährigen Reichskanzler nannte, war von Anfang an lediglich als “Platzhalter” für einen jüngeren und energischeren Amtsträger vorgesehen. Dennoch wollte der gemäßigte Liberale nicht tatenlos auf seine Abberufung warten. Seine Amtszeit wurde vor allem durch die Reform der Militärstrafprozessordnung geprägt. Ungeachtet seines besonderen Verhältnisses zum Kaiser setzte er diese Reform gegen dessen Widerstand durch.
Rede von Hohenlohe-Schillingsfürst bei den Reichstagsverhandlungen, u.a. zur Reform des Wahlrechts, 12. Januar 1895 (Quelle: BArch N 1007/1659)
Bernhard von Bülow, Weltpolitiker der Konfrontation (Reichskanzler: 17. Oktober 1900 - 10. Juli 1909)
Bernhard von Bülow wurde bereits unter der Kanzlerschaft seines Vorgängers systematisch zu dessen Nachfolger aufgebaut. Wilhelm II. hatte höchste Erwartungen an den langjährigen Diplomaten, der die deutsche Stellung im Konzert der Großmächte verbessern sollte und bald zum beliebtesten Reichskanzler seit Bismarck wurde.
Die Politik Bülows war eindeutig auf Konfrontation ausgerichtet. Seine Wiedereinführung der Getreidezölle verschlechterte zunächst das Verhältnis zu Russland. Die Feindschaft Englands zog er durch den massiven Ausbau der deutschen Flotte auf sich. Innenpolitisch erreichte er eine Belebung des Nationalismus, den Bülow zunehmend mit imperialistischen Tönen verband. Dies verschärfte den Konflikt mit den Sozialdemokraten, die seine “Weltpolitik” ablehnten.
Der von Bülow angeheizte Nationalismus sollte sich in der sogenannten “Daily Telegraph-Affäre” gegen ihn und den Kaiser wenden.
Vertrauliche Besprechung zur Daily Telegraph-Affäre, 11. November 1908 (Quelle: BArch N 1016/33, fol. 56)
"„Wir wollen niemanden in den Schatten stellen, aber wir fordern auch unseren Platz an der Sonne.“"
Bernhard von Bülow
Theobald von Bethmann Hollweg, der gescheiterte Taktiker (Reichskanzler: 14. Juli 1909 - 13. Juli 1917)
Der bisherige Stellvertreter Bülows, Theobald von Bethmann Hollweg, wurde am 7. Juli 1909 zum Reichskanzler ernannt. Der Kaiser wusste um dessen ausgleichende Persönlichkeit und hoffte, so die rivalisierende Situation der Parteien beruhigen zu können. Bethmann Hollweg vertrat liberale Ansichten und stand der Fortschrittlichen Volkspartei nahe. Er bemühte sich um einen Ausgleich zwischen Sozialdemokratie und Konservatismus, ein Ansinnen, welches ihm Lob, aber vor allem auch Kritik beider Seiten einbrachte.
Außenpolitisch legte der neue Reichskanzler viel Wert auf eine Verständigung mit England. Die Beziehungen zu Österreich hielt er für so problemlos, dass er es als wichtiger empfand, sich den anderen Mächten gegenüber freundlich zu erweisen.
Dennoch erschien Bethmann Hollweg der Krieg angesichts der Häufungen internationaler Krisen während seiner Amtszeit als unausweichlich.
Telegramm an den Kaiser, 28. November 1910 (Quelle: BArch N 1549/1 fol. 1 RS)
"“Unsere auswärtige Politik allen Mächten gegenüber ist lediglich darauf gerichtet, die wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte Deutschlands frei zur Entfaltung zu bringen.”"
Theobald von Bethmann Hollweg
Georg Michaelis, Kanzler der "Lücke" (Reichskanzler: 14. Juli - 24. Oktober 1917)
Der erste nichtadelige Reichskanzler, Georg Michaelis, hatte dieses Amt niemals angestrebt, stellte sich aber zur Verfügung, als der Kaiser ihm sagte, “es müsse einer in den Riß springen”. Der tiefreligiöse Michaelis stammte aus einer Beamtenfamilie. Seine unbedingte Treue zum Kaiser, seine Unbekanntheit und politische Erfahrungslosigkeit waren entscheidende Faktoren für die OHL, ihn dem Kaiser als ihren Wunschnachfolger für den widerspenstigen Bethmann Hollweg zu präsentieren. Seine politische Schwäche nach innen und außen führten jedoch zu seiner Entlassung nach nur drei Monaten.
Brief von Thadden-Trieglaff an Freiherr von Braun, u.a. zur Person Michaelis, 20. August 1962 (Quelle: BArch N 1085/67)
Georg Graf von Hertling, Kanzler ohne Macht (Reichskanzler: 1. November 1917 - 30. September 1918)
Den politisch so unerfahrenen Michaelis löste einer der zu diesem Zeitpunkt erfahrensten deutschen Politiker ab. Georg Graf von Hertling war bereits 74 Jahre alt, als er sein Amt antrat. Die Regierung Hertling war ein weiterer Schritt zur Parlamentarisierung des Reichs. Trotz wichtiger politischer Schritte, wie einer anvisierten Wahlreform mit Elementen eines Verhältniswahlrechts, lehnte Hertling Parlamentarisierung und Demokratisierung entschieden ab. Als eine Verfassungsänderung die Regierung vom Vertrauen des Reichstags abhängig machen sollte, leistete er gegen diese Forderung Widerstand.
Endgültig besiegelt wurde das Ende seiner Kanzlerschaft am 29. September 1918 im Großen Hauptquartier in Spa. Einen Tag später erging der Erlass des Kaisers zur Parlamentarisierung.
Vertrauliche Besprechung in Spa , 1. Juli 1918 (Quelle: BArch N 1036/41)
Prinz Max von Baden, der Krisenverwalter (Reichskanzler: 4. Oktober - 9. November 1918)
Als Prinz Maximilian Alexander Friedrich Wilhelm von Baden zum Reichskanzler ernannt wurde, war der Krieg bereits verloren. Am 4. Oktober 1918, dem Abend seiner Ernennung, sendete er ein Telegramm an den US-Präsidenten Wilson und bat um einen Waffenstillstand auf der Grundlage von dessen Vierzehnpunkteprogramm. Wilson lehnte ab, worauf der Reichskanzler die sogenannte “Reform von oben” auf den Weg brachte. Er reformierte das Reichstagswahlrecht, trieb die Beseitigung des preußischen Dreiklassenwahlrechts voran und holte sogar die politische Linke in sein Kabinett. Ihre Vollendung fand diese Revolution am 9. November 1918 mit der Ausrufung der Republik.
In seinen Memoiren schrieb Max von Baden später, dass er bei der Auflösung nicht von der inneren Überzeugung, sondern von den äußeren Umständen geleitet wurde.
Telegramm an Fürst von Bülow, 7. Oktober 1918 (Quelle: BArch N 1016/59)
"“Der Kaiser hat abgedankt.”"
Prinz Max von Baden
Text und Objektauswahl—Antje Märke und Lucas Hardt