Musik der Übergänge

Räume und Stimmen des Michael Praetorius

An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert befindet sich die Musik im Umbruch: Eine musikalische Moderne beginnt und bricht mit der für die Renaissance typischen vielstimmigen Musik, um mit neuen Mitteln Inhalte zu vermitteln und Affekte zu erzeugen.

Porträt Michael Praetorius (1605)Herzog August Bibliothek

Der Wolfenbütteler Hofkapellmeister Michael Praetorius (1571–1621), der über 1200 Kompositionen für Chorgesang und viele weitere Werke schuf, gestaltete diesen von Italien ausgehenden Umbruch aktiv mit und bereitete so das Fundament des barocken Stils, der das Musikleben in Deutschland für die kommenden zwei Jahrhunderte beherrschen sollte. 

Die originalen Musikalien und Bücher der Herzog August Bibliothek – musiktheoretische Werke, zeitgenössische Notendrucke, biographische Zeugnisse, Werke von Praetorius oder aus seinem Besitz – sind die Zeugen dafür, wie der Komponist die musikalische Weltgeschichte nach Wolfenbüttel holte und den Umbruch um 1600 mit einer Musik vielfältiger Übergänge zwischen Tradition und Innovation begleitete.

Leichenzug von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg ([1613]) von Elias HolweinHerzog August Bibliothek

Michael Praetorius

Eine kurze Biographie

1571 in Creuzburg an der Werra geboren, Schulbesuch in Torgau und Zerbst

1585 Studium der Philosophie und Theologie in Frankfurt an der Oder, als Organist an der Universitäts- und Pfarrkirche St. Marien

1589 Studium an der Universität Helmstedt

1593 Kammerorganist von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg in Gröningen

1596 Zur Einweihung der neuen Gröninger Orgel von David Beck versammeln sich die bedeutendsten Orgelmeister Deutschlands („Gröninger Orgelprobe“)

1604 Bestallung als Hofkapellmeister zu Wolfenbüttel

1605–1613 Veröffentlichung seiner Kompositionen in den 9 Teilen der Musae Sioniae

1611 Missodia Sionia, Hymnodia Sionia, Eulogodia Sionia, Megalynodia Sionia

1612 Terpsichore

1613 Herzog Heinrich Julius stirbt in Prag

1613–1616 Kapellmeister am kursächsischen Hof in Dresden, Gutachtertätigkeiten bei Orgelbauprojekten, Kompositionsaufträge verschiedener Fürstenhöfe und Städte für Festmusiken

1614–1619 musiktheoretisches Hauptwerk Syntagma musicum (3 Teile)

1619 Polyhymnia caduceatrix & panegyrica; Aufenthalte in Leipzig und Nürnberg

1620 Polyhymnia exercitatrix

1621 Michael Praetorius stirbt am 15. Februar 1621 in Wolfenbüttel

Antiquitates Gröningenses. Oder Historische Beschreibung Der Vormahligen Bischöfflichen Residentz Gröningen (1710) von Johann Georg LeuckfeldHerzog August Bibliothek

Bischofsresidenz Gröningen

Das Schloss zu Gröningen im Harzvorland, das Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg, zugleich Bischof von Halberstadt, 1586–94 im Renaissance-Stil errichten ließ, wurde bereits 1817 abgerissen.  Historische Beschreibungen wie die von Leuckfeld vermitteln noch eine Vorstellung von der ehemaligen Residenz. 

Seit etwa 1593 wirkte Michael Praetorius als Kammerorganist des Herzogs in Gröningen, wo ihm u.a. die musikalische Gestaltung der Gottesdienste in der Schlosskapelle oblag. Hier befand sich mit der Orgel des Halberstädter Orgelbauers David Beck eines der größten  Instrumente im Reich. Ihre Einweihung 1596, zu der 53 Organisten aus ganz Deutschland zur Erprobung der Orgel eingeladen waren, war für den jungen Praetorius zugleich eine musikalische Kontaktbörse.

Porträt Heinrich JuliusHerzog August Bibliothek

Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg

Zugleich Bischof von Halberstadt

Tradition als Grundlage der Musik

Galten ausführende Musiker und selbst Komponisten bis ins 16. Jahrhundert noch als ‚Handwerker‘, entwickelte sich nach 1600 zunehmend ein künstlerisches Selbstbewusstsein Musikschaffender.

Syntagma Musicum ex Veterum et Recentiorum, Ecclesiasticorum autorum lectione […] collectum (1614) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Mit seinem dreibändigen musiktheoretischen Hauptwerk Syntagma musicum (sinngemäß: Die Verfasstheit oder Gesamtdarstellung der Musik) weist sich Michael Praetorius als Angehöriger der späthumanistischen Gelehrtenkultur aus.  Das Syntagma ist keine elementare Musiklehre, sondern stellt die theologischen und historischen Grundlagen der Musik, die Instrumenten- und Orgelkunde sowie aktuelle musikpraktische und ‑ästhetische Probleme dar.

Die Wolfenbütteler Bibliothek

Bei der Arbeit am Syntagma musicum muss Michael Praetorius über einen erheblichen Bestand an Büchern und Musikalien verfügt haben, der uns bis auf wenige Ausnahmen nicht mehr zugänglich ist. Seine Darstellung historischer Notenschriften veranschaulicht er mit Abbildungen aus einer mittelalterlichen Handschrift. Diese machen es möglich, die Vorlage zu identifizieren:

Mindener Graduale (um 1027-1032)Herzog August Bibliothek

Das sog. 'Mindener Graduale', eine liturgische Handschrift, die Herzog Heinrich Julius 1597 für Wolfenbüttel erworben hatte. 

Offensichtlich hatte Praetorius die Möglichkeit, die Bibliothek seines Dienstherrn zu benutzen. Der Kodex gilt heute als eine der wichtigsten Quellen für einstimmigen liturgischen Gesang des Mittelalters.

Die Musik der lutherischen Reformation

In der Polyhymnia Panegyrica (sinngemäß: Die Muse des Gesangs bei festlichen Anlässen) wendet Michael Praetorius den neuartigen italienischen Kompositionsstil, wie er ihn in den Concerti ecclesiastici des Lodovico Viadana (1602) vorfand, auf die evangelische Kirchenmusik an.

Polyhymnia Panegyrica […] Darinnen XL Solennische Friedt- vnd Frewdens-Concert [hier: Octavus] ([1619]) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Polyhymnia Panegyrica […] Darinnen XL Solennische Friedt- vnd Frewdens-Concert [hier: Octavus] ([1619]) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Wie in der Renaissancemusik üblich komponiert Praetorius keine eigene Melodie sondern verwendet einen Choral, wie hier Martin Luthers „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“, als Ausgangsmaterial. Aber die mehrstimmige Komposition beruht nun nicht mehr wie in der Polyphonie auf den kontrapunktisch (Note gegen Note) gesetzten Singstimmen, sondern auf einer instrumentalen Basslinie (Generalbass) als musikalischem Fundament.

Polyhymnia Panegyrica […] Darinnen XL Solennische Friedt- vnd Frewdens-Concert [hier: Octavus] ([1619]) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Michael Praetorius: Erhalt uns Herr bei deinem Wort
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Lutherischer Choral im italienischen Stil

Bei allen Innovationen, die Michael Praetorius aufgegriffen und in die deutsche Kirchenmusik eingeführt hat, ist ein großer Teil seines Schaffens von der Tradition des Cantus firmus bestimmt, der Komposition eines mehrstimmigen Satzes über eine vorgegebene  Melodie, einen gregorianischen Choral oder ein lutherisches Kirchenlied. 


Michael Praetorius: Erhalt uns Herr bei deinem Wort (für 17 Stimmen), aus: Polyhymnia Panegyrica et Caduceatrix (1619). Michael Praetorius: „Erhalt uns Herr bey deinem Wort. Lutherische Choralkonzerte“ (Musik aus Schloss Wolfenbüttel I) · 2016 · Weser-Renaissance Bremen / Manfred Cordes · Track 6 [7:54] · cpo 555 064-2 · © 2017.

Allerdings war er dabei bemüht, von diesem Ausgangsmaterial ein breites Spektrum an Aufführungsmöglichkeiten zu gestalten, die von einfachen drei- oder vierstimmigen Sätzen, über mehrchörige motettische Formen hin zu den geistlichen  Konzerten im italienischen Stil reichen, wie hier das 17-stimmige Konzert über Luthers Lied „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“ aus seinem Spätwerk.

Der Kaiserhof zu Prag

Herzog Heinrich Julius hat Praetorius mehrfach für diplomatische Aufgaben eingesetzt, und dieser hat solche Reisen zum Networking genutzt. Die Musiker am Prager Kaiserhof waren entweder selbst Italiener oder in Italien ausgebildet – für Praetorius die Gelegenheit, den neuen musikalischen Stil aus erster Hand kennenzulernen. Die Odae Suavissimae in Gratiam et Honorem sind Teil eines Sammelbandes aus mehreren Musikdrucken, der eines der wenigen Bücher darstellt, das mit Sicherheit aus dem Besitz von Praetorius stammt.

Odae Suavissimae in Gratiam et Honorem […] D. Jacobi Chimarrhaei] ([um1601/02]) von Philipp Schoendorff (Hg.)Herzog August Bibliothek

Der Druck ist eine musikalische Anthologie zu Ehren des Vorstehers der Prager Hofkapelle. 

Die handschriftliche Widmung an Michael Praetorius auf dem Titel legt nahe, dass dieser 1602 am Kaiserhof weilte und das Exemplar dort persönlich empfing.  Leider ist die Unterschrift des Schenkers beim Binden abgeschnitten worden. 

Die venezianische Mehrchörigkeit

­Anthologien sind in der Frühen Neuzeit ein wichtiges Mittel bei der Verbreitung zeitgenössischer Musik - hier ein Beispiel des renommierten Nürnberger Verlegers Paul Kauffmann (1568–1632), der insbesondere als Vermittler italienischer Komponisten hervortrat.

Sacrae Symphoniae, Diversorum Excellentissimorum Authorum, Teil 1 [hier: Cantus und Sexta] (1608)Herzog August Bibliothek

Die Sacrae Symphoniae enthalten vor allem Werke italienischer Zeitgenossen, darunter die sechzehnstimmige Vertonung von Omnes gentes plaudite manibus („Frohlocket mit Händen alle Völker“, Psalm 46) des Giovanni Gabrieli (um 1554/57–1612). 

Sacrae Symphoniae, Diversorum Excellentissimorum Authorum, Teil 1 [hier: Cantus und Sexta] (1608)Herzog August Bibliothek

Mit dem Organisten an San Marco zu Venedig verbindet sich die Musizierpraxis der Mehrchörigkeit, der Verteilung der musizierenden Vokal- und Instrumentalgruppen im Raum, z.B. auf die gegenüberliegenden Emporen einer Kirche.  Praetorius hat diese Klangarchitektur im Syntagma musicum beschrieben und in seinen Kompositionen und Aufführungen selbst praktiziert.

Musae Sioniae […] Darinnen Deudsche Psalmen vnd geistliche Lieder, Tl. 1 [hier: Tenor II. Chori] (1605) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Michael Praetorius: Aus tiefer Not
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Der geteilte Chor im Frühwerk von Praetorius

Ein frühes, bereits im ersten Teil der Musae Sioniae veröffentlichtes Beispiel für einen geteilten Chor im Werk von Michael Praetorius bildet der Satz über „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“, Luthers Version des Psalms 130, der als Bußpsalms bis heute einen festen Platz in der Liturgie der Fastenzeit und der Karwaoche hat.


Michael Praetorius: Aus tiefer Not (für zwei Chöre zu je vier Stimmen), aus: Musae Sioniae, Tl. 1 (1605). Michael Praetorius: „Gloria sei dir gesungen“ · 2016 · Gli Scarlattisti, Capella Principale / Jochen Arnold · Track 3 [4:03] · Carus 83.482 · © 2017.

Der Komponist als Klangarchitekt

Bevor er in den späteren Teilen zu einer einfacheren Aufführungspraxis zurückkehrte, komponierte Praetorius in den ersten Bänden seiner Musae Sioniae (den Musen des himmlischen Jerusalems) Kirchenmusik für mehrchörige Aufführungen nach venezianischem Vorbild.

Musae Sioniae […] Geistlicher Deutscher in der Christlichen Kirchen vblicher Lieder vnd Psalmen […] Fünffter Theil [hier: Sexta Vox] (1607) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Die Holzschnittrahmung der Titelblätter vermittelt eine gute Vorstellung davon: Zwei Chöre aus Sängern und Instrumentalisten sind auf gegenüberliegenden Emporen platziert, ein dritter Chor gruppiert sich darunter um die Orgel. 

Der Raum ist aber nicht realistisch, sondern symbolisch zu verstehen: Er öffnet sich nach oben zur immerwährenden himmlischen Liturgie, deren Abglanz die irdische Musik vermittelt – getreu Praetorius’ Lebensmotto: Mihi Patria Coelum  („Meine Heimat ist der Himmel“).

Der Bass, das Fundament aller Stimmen

„Der Bass nährt die Stimmen, lässt sie zunehmen, gibt ihnen ein Fundament und steigert sie”, so lautet eine Maxime aus Giovanni Artusis Kontrapunktlehre. Praetorius übernahm sie im Syntagma musicum in seine Erklärung des Konzertierens über einem Bass, dem „Fundament aller Stimmen”. Ein ganzes Kapitel übersetzte Praetorius dafür aus dem italienischen Traktat.

L’Arte del Contraponto Ridotta in Tavole (1586) von Giovanni Maria ArtusiHerzog August Bibliothek

In der Musikgeschichte gilt Artusi als reaktionär, weil er gegen Claudio Monteverdis neuen Stil polemisierte. Dabei war er ein moderater Vermittler, der eine der ersten Dissonanzenlehren in der Musikgeschichte entwickelte. 

L’Arte del Contraponto Ridotta in Tavole (1589) von Giovanni Maria ArtusiHerzog August Bibliothek

Wichtig war ihm, dass sich Neuerungen aus der Tradition begründen ließen – eine Strategie, die auch Praetorius verfolgte.

Die Internationalität des Musikalienhandels

Lodovico Grossi da Viadana (um 1560–1627) ist für Praetorius eines der wichtigsten Vorbilder der neuen Generalbasspraxis – sowohl bei der praktischen Anwendung als auch bei der Vermittlung an andere Musizierende. Bei den aktuellen Entwicklungen der Musik konnte sich Praetorius noch nicht auf ein fertiges Lehrgebäude stützen; er orientierte sich an den druckfrischen Kompositionen, die er direkt im zeitgenössischen Musikalienhandel erwarb.

Opera Omnia Sacrorum Concertuum I.II.III. & IV. Vocum [hier: Bassus Generalis] (1626) von Lodovico ViadanaHerzog August Bibliothek

Der hier gezeigte Druck der Generalbassstimme von Viadanas geistlichen Konzerten erschien erst einige Jahre nach Praetorius’ Tod.  Das Titelblatt rühmt den Komponisten als „ersten Erfinder dieser neuen musikalischen Kunst“ des Generalbasses und bezeugt somit das Ansehen, das Viadana damals bereits in Deutschland genoss.

Opera Omnia Sacrorum Concertuum I.II.III. & IV. Vocum [hier: Bassus Generalis] (1626) von Lodovico ViadanaHerzog August Bibliothek

Italienisches Repertoire im mitteldeutschen Musikmagazin

Viadanas Vertonung von Versen aus dem Hohenlied („Wie schön bist du, meine Freundin“) steht in einer Handschrift, die aus dem Musikalienbestand der Helmstedter Universitätskirche stammt - eine Musikbibliothek, die schon Michael Praetorius wohl genutzt hat.

O quam pulchra es amica mea, fol. 97v-98r. (um 1638–1645) von Lodovico ViadanaHerzog August Bibliothek

Der Sammelband freilich stammt aus späterer Zeit und enthält neben weiteren Werken Viadanas unter anderen solche von Claudio Monteverdi sowie von Heinrich Schütz, Hermann Schein und Samuel Scheidt wie auch von Praetorius selbst. Weit überwiegend  handelt es sich um geistliche Konzerte. Die Sammlung bezeugt mit diesem Repertoire eindrücklich die Übernahme des italienischen Stils in der ersten Hälfte des 17. Jahrunderts.

Madrigalistik zwischen Tradition und Innovation

Das Madrigal – die mehrstimmige Vertonung formal freier lyrischer Texte – ist eine der zentralen Formen der Vokalmusik des 16. Jahrhunderts und gelangt in der Zeit um 1600 zu einer letzten Blüte. Komponisten wie Giulio Caccini (1551–1618) und Claudio Monteverdi (1567–1643) nutzten die traditionelle Form für Weiterentwicklungen hin zum Basso continuo.

Madrigali a Cinque Voci [hier: Canto] (1602) von Agostino AgazzariHerzog August Bibliothek

Die Madrigale von Agostino Agazzari (1578–1640), hier in einer Ausgabe des bedeutenden flämischen Musikverlegers Pierre Phalèse d. J. (1550–1629), sind in einen Sammelband eingebunden, der auch Werke von Luca Marenzio (1553/54–1599) und Monteverdi enthält  und so die europäische Präsenz der späten italienischen Madrigalistik dokumentiert. Für Michael Praetorius ist Agazzari durch seine Schrift Del Sonare Sopra’l Basso von 1607 neben Viadana einer der wichtigsten Gewährsleute für die Generalbasspraxis.

Universalinstrument Orgel

Die mit Tasten und Pedalen gespielte und über Blasebälge mit ‚Wind‘ versorgte Pfeifenorgel ist das zentrale Instrument der Kirchenmusik. Auch für Michael Praetorius ist sie das Fundament seines musikalischen Schaffens. Das Spiel der Orgel, Theorie und Praxis ihres Baus, ihrer Register und Akustik beschäftigen Praetorius in Zusammenarbeit mit den bedeutendsten Orgelbauern seiner Zeit ein Leben lang.

Prima Parte Del Transilvano Dialogo Sopra Il Vero Modo Di Sonar Organi, & Istromenti da penna (1612) von Girolamo DirutaHerzog August Bibliothek

Neben seiner langjährigen Erfahrung als Organist beruft sich Praetorius in der Instrumenten- und Orgelkunde, die den zweiten Band seines Syntagma musicum bildet, wiederum auf italienische Quellen wie die Anleitung zum Spiel von Orgel und  Cembalo des Girolamo Diruta (um 1554/64–um 1610).

Prima Parte Del Transilvano Dialogo Sopra Il Vero Modo Di Sonar Organi, & Istromenti da penna (1612) von Girolamo DirutaHerzog August Bibliothek

Den Praktiker Praetorius interessierten daran Fragen der Aufführung, die hier im Vordergrund stehen.

Der Klangraum aus Instrumenten

Instrumente und Instrumentalfarben als gleichwertige Alternativen und Ergänzungen zur menschlichen Stimme in der mehrstimmigen Musik gewinnen in der Generalbasspraxis im Vergleich zur Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung. Deswegen widmet Praetorius der Instrumentenkunde einen eigenen Band innerhalb seiner Kompendiums des musikalischen Wissens und ergänzt diesen noch um einen Tafelband mit Abbildungen.

Theatrum Instrumentorum Seu Sciagraphia […] Darinnen Eigentliche Abriß vnd Abconterfeyung/ fast aller derer Musicalischen Instrumenten […] abgerissen (1620) von Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Sein ‚Theater der Musikinstrumente‘ gilt heute wegen seiner detaillierten und maßstabsgetreuen Darstellungen als eine der wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion alter Instrumente und die historisch informierte Aufführungspraxis.

Michael Praetorius als Orgelkomponist

Michael Praetorius hat weit überwiegend Chorkompositionen geschaffen; das Orgelwerk nimmt sich dagegen an Umfang bescheiden aus: wenig mehr als drei Choralfantasien im siebten Band der Musae Sioniae (1609) und sechs Orgelchoräle in der Hymnodia Sionia (1612).  Aber gerade das instrumentale solistische Musizieren verschafft Freiheiten der Form:

Michael Praetorius: Alvus tumescit virginis
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„Alvus tumescit virginis“ (bei Luther: „Der jungfraw leib schwanger ward“), eine Strophe aus dem Adventshymnus „Veni redemptor gentium“ („Nun komm, der Heiden Heiland“), bildet das Anschwellen des jungfräulichen Leibes Marias mit der an- und absteigenden Begleitstimme der ersten Takte ab.   


Michael Praetorius: Alvus tumescit virginis, aus: Hymnodia Sionia (1611). Michael Praetorius: „Complete Organ Works“ (Organ Works of the North German Baroque XIII) · 2011 · Friedhelm Flamme · Track 5 [1:11] · cpo 777 716-2· © 2014.

Orgellandschaft Mitteldeutschland

Michael Praetorius war ein gefragter Sachverständiger bei der Planung und beim Bau von Orgeln. Mit dem Orgelbauer Esaias Compenius, der von Herzog Heinrich Julius mit einer Kammerorgel für Schloss Hessen beauftragt worden war, arbeitete er eng zusammen. Aus dieser Verbindung ging auch ein gemeinsam verfasster kurzer Leitfaden hervor, der beschreibt, was bei der Abnahme einer neuerbauten Orgel zu beachten ist.

Von Probierung der Orgeln. Papierhandschrift (1. Hälfte des 17. Jahrhunderts) von Esaias Compenius/Michael PraetoriusHerzog August Bibliothek

Diese sogenannte Orgelnverdingnis gelangte zu Praetorius’ Lebzeiten nicht in Druck, sondern liegt in einer zeitgenössischen Abschrift vor. Die Handschrift bildet zusammen mit musiktheoretischen Drucken einen Sammelband, der Friedrich Emanuel Praetorius  1623–1695) dem Kantor der Michaelisschule in Lüneburg – aber nicht mit Michael verwandt –, gehörte.

Der Künstler und die Medien

Wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit sorgte Praetorius dafür, dass seine Werke im Druck Verbreitung fanden. Dabei leitete ihn der Gedanke der Vermittlung: In der Musik wird das Wort Gottes verkündet, und die Musae Sioniae bilden dafür einen systematischen musikalischen Vorrat, aus dem sich alle Kirchen bedienen können sollten. Zugleich gewinnt die Musik durch den Druck eine Autonomie, die sie über das vergängliche Klangereignis fortdauern lässt.

Porträt Michael Praetorius (1605)Herzog August Bibliothek

Praetorius versah seine Kompositionen daher mit seiner Marke: einem Porträt, das ihn als 35-Jährigen zeigt. Das Epigramm unter dem Holzschnitt lautet: „Vor dem der Chor der Musen und die ganze Musik sich erhebt, / dieser ist von Angesicht der  Musiker Michael Praetorius“.

Der Wolfenbütteler Hof

Nicht die Wolfenbütteler Hauptkirche Beatae Mariae Virginis, deren Bau erst erst 1624 abgeschlossen war, ist der zentrale Wirkort und Klangraum von Michael Praetorius, sondern das Schloss und die hier nur noch im Bild zu sehende, 1796 abgerissene Schlosskapelle.

Das Fürstl. Schloss in der Vestung Wolffenbüttel (1654) von Conrad Buno / Caspar MerianHerzog August Bibliothek

Eine Hofkapelle hatte bereits Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528–1589) gegründet, deren Leiter Thomas Mancinus (1550–1612) 1604 von Michael Praetorius abgelöst wurde. Der Hofkapellmeister war gleichzeitig Organisator, künstlerischer Leiter und ausführender Musiker der gesamten bei Hof und in der Kirche benötigten Musik. 

Im Besoldungsregister von 1606/07 sind außer Praetorius und seinem Vorgänger Mancinus 16 Musiker und 8 Kapellknaben aufgeführt. Damit verfügte Praetorius in seiner Zeit über einen ungewöhnlich großen Klangkörper.

Der Hof in Bewegung

Die epochale Lebensleistung von Michael Praetorius als Musiker wäre kaum denkbar ohne die Rahmenbedingungen, die sein Brotherr Heinrich Julius zunächst in Gröningen und dann in Wolfenbüttel geschaffen hatte. 1613 wurde der Herzog zu Grabe getragen. Die Ordnung der Trauerprozession hielt Elias Holwein in einer Holzschnittfolge fest:

Leichenzug von Herzog Heinrich Julius von Braunschweig-Lüneburg ([1613]) von Elias HolweinHerzog August Bibliothek

Demnach folgten 36 vorangehenden Edelleuten der Hofkapellmeister Praetorius, sein Vorgänger Thomas Mancinus sowie das Ensemblemitglied Esaias Körner – jeweils ein Kreuz tragend. Heinrich Julius’ Nachfolger Friedrich Ulrich (1591–1634) war kein so  großer Musikfreund wie sein Vater und reduzierte die Wolfenbütteler Hofkapelle zunächst und Praetorius musste sich bald um eine personelle Aufstockung bemühen. Daneben war er noch als Kapellmeister ‚von Haus aus‘ für die Kursächsische Kapelle in Dresden tätig.

Die neue Hauptkirche – Ruhestätte, nicht Wirkort

Ein „sündiger Mensch/ vnd kein Engel“ sei der Kapellmeister nach eigener Einschätzung trotz seines hohen Ansehens „bey Königen/ Churfürsten vnd Herren“ gewesen, so heißt es in der gedruckten Leichenpredigt auf Michael Praetorius, nachdem dieser am 15. Februar 1621 noch vor der Vollendung seines fünfzigsten Lebensjahres verstorben war.

Leichpredigt. Des Ehrnvesten/ Achtbarn vnd Kunstreichen Herrn. Michaelis Praetorii, Fürstl: Br: gewesenen Capellmeisters (1621) von Petrus TuckermannHerzog August Bibliothek

Gedruckte Leichenpredigten sind ein zeittypisches Phänomen: Sie dienen der Gedächtnisstiftung, vor allem aber als Zeugnis dafür, dass der Verstorbene mit Gott versöhnt aus dem Leben geschieden ist. Praetorius wurde in der noch im Bau befindlichen Hauptkirche  Beatae Mariae Virginis beigesetzt und ein Epitaph, das heute nicht mehr erhalten ist, erinnerte an den Hofkapellmeister. 

Leichpredigt. Des Ehrnvesten/ Achtbarn vnd Kunstreichen Herrn. Michaelis Praetorii, Fürstl: Br: gewesenen Capellmeisters (1621) von Petrus TuckermannHerzog August Bibliothek

Der Text der Inschrift ist in der Leichenpredigt überliefert.

Mitwirkende: Geschichte

Kurator: Dr. Sven Limbeck – HAB
Musik: Gli Scarlattisti, Capella Principale/Jochen Arnold, Carus Musikverlag, Friedhelm Flamme, Weser-Renaissance Bremen/Manfred Cordes

Quelle: Alle Medien
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